Mondherz
jetzt?«, fragte Miklos. In seiner Stimme schwang die Gewissheit mit, dass Gábor wüsste, was das Richtige war. Veronika war sich dessen nicht so sicher.
»Wir können nicht nach Temeschburg zurück«, sagte sie daher leise. »Dort werden sie euch zuerst suchen.«
»Das habe ich auch nicht vor«, erwiderte Gábor ruhig. »Das Wichtigste ist, dass wir erst einmal verschwinden. Es darf keine Spuren geben, denen die Soldaten folgen können. Wir werden unsere Wolfsgestalt annehmen und über die Heide nach Szolnok laufen.«
»Szolnok!« Miklos riss die Augen auf. »Gehen wir zu Jiri?«
»Er ist mir noch einen Gefallen schuldig«, erwiderte Gábor, und Miklos sprang auf. Seine Narben leuchteten rot vor Aufregung.
»Jiri ist mein Onkel«, erklärte er Veronika. »Seit Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Dein Onkel?« Sie stockte. »Ich dachte, alle deine Verwandten wären …«
Miklos fiel ihr ins Wort. »Er war bei dem Feuer nicht dabei. Als er einige Tage später zurückkam, hat Gábor ihn davon überzeugt, mich in seine Dienste treten zu lassen.«
»Weiß er, was du bist?«
Miklos schüttelte den Kopf. »Er weiß nur, dass Gábor mein Leben gerettet hat. Er hat jetzt eine Herberge in Szolnok.«
»Dort treffen wir uns in drei Tagen«, sagte Gábor zu Paulo. »Du nimmst unsere Pferde und unsere Waffen, unsere Kleidung tragen wir selbst. Lass dich nicht von den königlichen Truppen stellen.«
»Das werde ich nicht.« Paulo hob stolz den Blick. »Ich werde da sein.«
In einem plötzlichen Impuls erhob sich Veronika, trat zu ihm und legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Danke«, sagte sie leise. »Danke, dass du mich begleitet hast und uns jetzt immer noch hilfst.«
Er zuckte wortlos mit den Schultern. Dann begann er zu lächeln, was alle Verdrießlichkeit aus seinem Gesicht vertrieb. Er sah jünger aus und sanfter, und Veronika wusste, sie hatte ihn trotz der Distanz, die er zu ihr hielt, ins Herz geschlossen. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie Gábor Paulo mit einem Blick durchbohrte, der schärfer als jede Klinge war.
»Vorwärts. Wir müssen los«, sagte er schroff und wandte sich dann ab.
Sie gingen nach draußen und zogen sich aus. Gábor und Miklos hielten taktvoll Abstand zu Veronika, so dass sie keine Zuschauer hatte, als sie ihr arg zerfetztes Kleid zusammenfaltete und in einen Beutel steckte. Noch nie hatte sie daran gedacht, nach ihrer Verwandlung ihre menschliche Kleidung mitzunehmen, die ihr in Wolfsgestalt so überflüssig erschien wie eine Wolldecke im Sommer.
Dieses Mal drängte sich ihre Wölfin nicht so ausgelassen nach vorne wie sonst.
Komm schon, meine kleine Bestie.
Ihre Erschöpfung ließ die Verwandlung schmerzhafter als sonst ausfallen. Sie presste die Augen zusammen, als ihre Gelenke und Knochen sich bewegten, als ihre Haut sich öffnete, um Fell sprießen zu lassen.
Danach saß sie eine Weile hechelnd da, ließ die Kraft und die Wärme der Wölfin durch ihren Körper fließen. Sie wartete, bis ihr Kopf klarer wurde, und dann erst schüttelte sie den Regen aus ihrem Fell und trabte zu den anderen, die Kleidung im Maul.
Miklos stieß ihr spielerisch mit der Schnauze an die Schulter, doch sie sah zu Paulo hinüber, der ein Stück weiter bei den Pferden stand. Sie nahm seinen Geruch deutlicher wahr als je zuvor, während seine Gesichtszüge verwischt waren, als wäre er ein Fremder. Er roch nach Mann, nach Freund, aber auch nach Angst, und sie hörte sein Herz bei ihrem Anblick einen Trommelwirbel schlagen. Es war das Gesetz des Bundes, nicht grundlos zu morden. Doch auch ohne diese Regel würde sie ihm nie etwas tun, denn sie kannte ihn, und das war sein Schutz. Für einen Augenblick spürte Veronika jedoch das Verlangen der Wölfin zu jagen, sie roch Paulos Fleisch, das köstlich duftete. Und auch wenn die Versuchung nicht allzu groß war, sie erschreckte sie so, dass sie sich jaulend wegdrehte.
Da stand plötzlich Gábor vor ihr, und er rieb seine Schnauze an ihrer, stupste ihren Kleiderbeutel an, den sie fallen gelassen hatte. Als er sich umdrehte und durchs Heidegras davontrabte, packte sie den Beutel und folgte ihm, ohne zu zögern.
Sie waren zwei Tage unterwegs, quer durch die Puszta nach Norden, wo die kleine Stadt Szolnok an einer Handelsroute nach Osten lag. Zu dritt trabten sie stetig weiter, die Schnauzen mit ihren Beuteln hoch erhoben, und trennten sich nur, um nach Nahrung zu jagen. Wenn sie rasteten, rollten sie sich im Gehölz der Wälder zu einem
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