Mondherz
nicht von ihr ab. »Ich wäre fast gestorben vor Angst, dass der König Euch hinrichten lässt«, fuhr sie fort. »Und jetzt bin ich so glücklich, Euch am Leben zu sehen.«
Die Bartstoppeln auf seiner Wange fühlten sich viel weicher an, als sie gedacht hatte. Er hielt immer noch still, wie eine Marmorstatue stand er da und erwiderte ihren Blick. Wie dumm musste ihm ihr Verhalten vorkommen, dachte sie, jäh hin- und hergerissen zwischen Verlangen und Zweifel. Doch Solanas stolzer Appell kam ihr in den Sinn. Sie sollte Gábor endlich zeigen, was sie fühlte. Ihre Wölfin spornte sie an.
Wir gehören doch längst zu ihm.
Sie sah auf seine Lippen, dann reckte sie sich auf die Zehenspitzen. Auf halbem Weg kam er ihr schon entgegen.
Der Kuss war eine warme Zuflucht in der kühlen Nacht, ein Kokon, der sich schützend um sie legte und die Welt von ihnen abschottete. Eine endlose Weile blieben sie so vereint. Als Gábor sich keuchend von ihr trennte, blieb Veronika atemlos zurück.
Gábor wich zurück und lehnte sich gegen die Wand. Sie begriff zuerst nicht, was er tat. Sie schmeckte ihn immer noch auf ihren Lippen, und sie roch ihn, Mann und Wolf, und darunter eine düstere Note, so bitter und doch honiggleich, dass ihre Wölfin sich danach verzehrte. Unwillkürlich streckte sie die Arme nach ihm aus.
Dann sah sie seinen Blick.
Die Zurückweisung darin war wie ein Schlag ins Gesicht, eine Wiederholung ihres ersten Kusses in Belgrad. Sie war so überrascht, dass ihr alle Worte entfielen. Ehe sie einen klaren Gedanken fassen konnte, schlüpfte Gábor durch die Tür und war verschwunden.
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19 . Kapitel
Szolnok, März 1457
V eronika wusch den Schmutz der vergangenen Tage mit einer Schüssel voller Brunnenwasser ab, das ihr die Magd gebracht hatte, und während sie ihr Haar kämmte, schritt sie fiebrig durch den Raum. Sie war wütend und durcheinander. Was war nur in Gábor gefahren? Sie verstand ihn nicht. Er war davongeeilt, als sei sie eine Teufelsbuhle, die ihn verführen wollte. Dabei hatte er sie ebenfalls geküsst, bevor er zurückgewichen war. Und wenn er einfach um ihre Ehre besorgt war? Konnte es das sein? Seine Berührungen, ihrer beider Berührungen waren gefährlich, das wusste sie. Ihre Wölfe schienen sich nicht im Geringsten für den Anstand der Menschen zu interessieren. Aber es war doch nur ein Kuss gewesen, ein Kuss, den sie sich gestohlen hatte, weil sie ihm nahe sein wollte!
Mit zitternden Fingern ordnete sie ihr Haar, flocht es und band es mit einem malvenfarbenen Stoffstreifen zusammen. Sie musste ihn endlich zur Rede stellen. Als sie jedoch die Küche betrat, warteten dort nur Miklos und Jiris Familie auf sie.
»Gábor ist in die Stadt gegangen, um die Bewaffneten an den Toren zu zählen«, berichtete Miklos, während er Gerstensuppe löffelte. »Es wird spät werden, wir sollen nicht auf ihn warten.«
Nur der Hunger ihrer Wölfin sorgte dafür, dass sie überhaupt etwas aß, und die Fröhlichkeit der wiedervereinten Familie trübte ihre Laune noch mehr. Sie gehörte nicht dazu, und sie konnte mit niemandem über das reden, was in ihr vorging. Mit einer Entschuldigung zog sie sich bald zurück, bevor Miklos etwas von ihrer trüben Stimmung mitbekam.
Trotz des Schlafmangels der letzten Tage war sie viel zu aufgewühlt, um die Augen schließen zu können. Nach einer Weile stand sie wieder auf und öffnete die Fensterläden. Die frische Luft strich wohltuend über ihr Gesicht. Es war so kalt, dass Eis in den Furchen der unbefestigten Straße glitzerte, doch Veronika blieb am Fenster stehen.
Die Nachtglocke hatte zum zweiten Mal geschlagen, als sie eine Gestalt die Gasse zur Herberge entlanggehen sah. Es war nur ein geräuschloser Schatten, aber sie erkannte Gábor. Ihre Finger krallten sich in die Fensterbank. Er betrat das Gasthaus, und ihr erschien das Knarren der Tür lauter als ein Donnerhall. Sie hielt den Atem an. Jeden seiner Schritte hörte sie, als er durchs Haus ging, das Ächzen der Treppenstufen, während er zu ihr in den Gästetrakt stieg. Vor ihrer Tür blieb er stehen. Sie hörte seinen Atem, und sie war sich sicher, er hörte auch ihren.
»Gábor«, flüsterte sie, und ehe sie einen klaren Gedanken fassen konnte, trieb die Wölfin sie zur Tür. Sie riss sie auf, und dort stand er. Er sah erschöpft aus, als hätte er einen langen Kampf ausgefochten.
»Wir müssen reden«, sagte er.
Sie nickte nur und starrte ihn an, das wirre schwarze Haar, das sich über seinen
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