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Mondherz

Mondherz

Titel: Mondherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Spies
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war kühler geworden, und die Sonne stand nur noch eine Handbreit über der Mauer. Bald würde es dämmern, und etwas in ihr sagte ihr, dass dies gar nicht gut für sie war. Unruhig begann sie, in der Mönchszelle hin- und herzugehen. Als die böse Kreatur gestern in ihr erwacht war, war es ebenfalls Abend gewesen. Vielleicht versorgte die Nacht die Bestie mit Kraft. Die Dunkelheit und der Mond, sie waren nun ihre Feinde. Vielleicht war sie aber auch nur vollkommen verrückt geworden. Zitternd presste sie die Hände aneinander. Schatten legte sich über den Innenhof, als die Sonne hinter der Abtei verschwand. Veronika ließ sich auf dem Strohsack nieder und begann mit zitternder Stimme zu beten.
    »Ave Maria, gratia plena«, murmelte sie.
Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade.
    Weder die heilige Mutter Maria noch Gott selbst schienen jedoch willens, sie von dem Dämon zu erlösen. Im Gegenteil, je dämmriger es wurde, desto mehr schien die Bestie sie zu verspotten. Die verschwommenen Bilder ihrer ersten Verwandlung traten wieder vor ihre Augen. Sie wollten Besitz von ihr ergreifen und zerstörten ihre Konzentration. Ihre Hände wurden taub, so fest presste sie sie aneinander. Dort, ein Rascheln. Sie fuhr herum, und mit Entsetzen stellte sie fest, dass sie die Maus, die durchs Zimmer huschte, nicht nur sah, sondern auch
roch.
Sie stöhnte auf. Als wäre dies ein geheimes Signal, stürmten plötzlich tausend Eindrücke auf sie ein. Alles wurde scharf und gleichzeitig ungewiss, jedes Knistern, jedes Geräusch. War das, was sie dort hörte, das Schnauben von Pferden? Der Schlag eines Vogelflügels? Die trippelnden Schritte eines kleinen Tieres? Ihre Nasenflügel weiteten sich bei jedem Atemzug. Es war ein Igel, der vor ihrem Fenster vorbeitrabte, sie konnte ihn riechen, sein stachliges Fell, erdig und süß zugleich, sein pulsierendes Leben.
    Sie sprach lauter: »Sancta Maria, Mater Dei, ora pro nobis peccatoribus.«
Mutter Gottes, bitte für uns Sünder.
    Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie wollte nicht glauben, was mit ihr geschah, wollte immer noch hoffen, dass alles ein Fiebertraum war. Sie wurde gewahr, dass sich ihr Kopf mit der Wachsamkeit eines Raubtiers hin- und herbewegte, ruckartig krümmte sie die Hände zu Krallen. Dann spürte sie, wie sie unwillkürlich ihre Zähne fletschte.
    »Nein«, flüsterte sie. Etwas zerbrach in ihr. Sie konnte es nicht mehr leugnen, mit aller Wucht drang die Wahrheit auf sie ein. Die Bestie, die in ihr lauerte, war genauso wirklich wie sie selbst. Sie würgte, und mit beiden Armen umklammerte sie ihren Leib. Gott hatte sie verlassen, und sie hatte ihre ewige Seele verloren, im Tausch gegen dieses unmenschliche Grauen.
    »Nein!« Sie schrie nun, doch das Rauschen ihres Blutes wurde immer lauter, und sie konnte nichts dagegen tun. Gleich würde sie der Bestie nachgeben müssen, würde sich nicht mehr dagegen wehren können, dass sie Gewalt über sie ergriff.
    »Hilfe«, brüllte sie und hämmerte gegen die Tür. »Holt mich hier heraus!«
    Als die Tür aufgerissen wurde, stolperte sie direkt in Gábors Arme. Er blinzelte überrascht und hielt sie für einen Augenblick fest umfangen, damit sie nicht beide das Gleichgewicht verloren. Sein dunkler, herber Geruch umfing sie wie ein schützender Mantel. Sie krallte sich an seiner Schulter fest. Im Moment hatte sie vor ihm weniger Angst als vor dem, was mit ihr geschah.
    »Helft mir, bitte!«
    Er schob sie wieder von sich weg und musterte sie kritisch. »Gut, kommt mit mir. Reißt Euch aber noch eine Weile zusammen.«
    Sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte, doch sie nickte. Das Dunkel des Gangs beruhigte sie tatsächlich ein wenig.
    »Was habt Ihr vor?«, rief sie, während Gábor sie eilends durch die Abtei führte.
    »Dem Trieb nachgeben«, antwortete er. Sie zuckte zurück, doch er zog sie einfach weiter. »Was dachtet Ihr, warum wir hier sind? In dieser verlassenen Gegend wird niemand die Wölfe bemerken.«
    »Die Wölfe?« Jetzt erst erkannte Veronika das Offensichtliche. »Ihr seid auch ein Werwolf? Nein!« Sie stemmte sich gegen Gábors Griff. »Ich werde mich nicht mit Euch zusammen in ein Untier verwandeln!«
    »Wie Ihr meint.« Er ließ sie so abrupt los, dass sie gegen die Wand taumelte. »Ihr könnt gerne zurück in die Zelle. Wenn Ihr in Eurer Wolfsgestalt dann versucht, aus dem Fenster zu springen, werdet Ihr Euch vermutlich am Gitter die Kehle aufreißen. Oder Ihr gelangt hinaus und lauft so lange weiter,

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