Mondherz
sie ergriffen hatte, es saß immer noch in einem Winkel ihres Geistes, boshaft und bereit zum Sprung. Sie spürte es ganz deutlich, und es machte ihr noch mehr Angst als die Bestie in der Kapelle oder die Männer.
Sie traten in den Innenhof, den sie von ihrem Fenster aus schon einmal gesehen hatte. Es war inzwischen dunkel geworden. Vereinzelt blinkten Sterne auf. Eine Laterne leuchtete auf einem Tisch, der mit Speisen gedeckt war. Als Gábor sie losließ, trat sie sofort einen Schritt zurück und blickte sich dann um. Sie sah vergitterte Luken, doch keinen weiteren Ausgang. An der Tür, durch die sie gekommen waren, postierte sich der Narbige. Er ließ sie nicht aus den Augen. An Flucht war nicht zu denken.
»Setzt Euch«, wies Gábor sie an, und sie ließ sich zögernd ihm gegenüber nieder. Er sagte nichts, blickte sie einfach an. Wie damals bei Elisabeths Vermählung schien sein Blick in ihr Innerstes zu dringen. Sein dunkles Gesicht war ausdruckslos und dabei mit seinen hohen Wangenknochen und der schmalen Nase auf so rätselhafte Weise schön, dass es ihr wie das Antlitz des Todesengels erschien. Sie erschauerte. Was wollte er nur von ihr? Ihre bangen Fragen ließen sie jede Zurückhaltung vergessen. Jäh sprang sie wieder auf.
»Was geht hier vor?«, rief sie. »Wo bin ich?«
»Nach dem Mahl werde ich Euch alles erklären.«
»Aber wie soll ich essen, wenn ich nicht weiß, was Ihr mit mir vorhabt? Werdet Ihr mich töten?« Ihre Stimme klang schrill.
»Esst und schweigt!«, fuhr der Mann sie an. Seine Augen glühten im Lampenlicht wie Kohlenstücke. »Wenn ich Euch töten wollte, wärt Ihr längst nicht mehr am Leben.«
Widerwillig gehorchte sie ihm. Sie war sich sicher, keinen Bissen herunterbringen zu können, doch sie hatte keine Wahl. Während sie mechanisch Brot und Fleisch zum Mund führte, hielt sie den Blick gesenkt. Es war ein Alptraum, es musste einer sein.
Der Mann schenkte ihr Wasser in einen Zinnbecher, dann lehnte er sich zurück. »Wir sind in Nordserbien, in einer verlassenen Abtei der Zisterzienser. Vor fünfzehn Jahren, als die Türken diesen Landstrich erobert hatten, tischten die braven Mönche einer der durchziehenden Truppen vergiftetes Essen auf. Ihr Plan wurde jedoch entdeckt. Die Türken ermordeten sie und plünderten die Abtei. Danach setzte kein Einheimischer mehr einen Fuß hierher, auch nicht, als die Türken diesen Teil Serbiens später wieder verloren. Die Toten halten sie fern.«
Die Toten.
Veronika schluckte. Sie musste an Pater Anton denken, doch sie schwieg. Der Mann verstummte ebenfalls wieder. Er schien niemand zu sein, der das Reden liebte.
Sie aß noch ein paar Bissen, dann schob sie den Teller weg. Verwundert stellte sie fest, dass ihr das einfache Mahl neue Kraft gegeben hatte. Sie hob den Blick. Obwohl es dunkel war, nahm sie ihre Umgebung deutlich wahr. Wilder Efeu wuchs an den Mauern und über die Pflastersteine, überwucherte die Reste eines Brunnens und warf im Licht der Lampe zackige Schatten. Säulen formten einen zerfallenen Kreuzgang. Das Zirpen von Grillen erfüllte die Luft, und aus dem Obsthain schwebte der Duft von Gras und Äpfeln herüber. Über allem stand ein fast voller Mond. Sein Anblick schien silberne Fäden um ihr Herz zu spinnen, ein Netz der Sehnsucht, in dem sie sich unwiderruflich verfing. Bestürzt spürte sie, wie die dämonische Kreatur in ihrem Geist wieder erwachte.
Spring auf,
rief sie,
bade im Mondlicht und renne, so weit die Beine dich tragen!
»Ihr spürt es, nicht wahr?« Gábors Frage riss sie herum.
»Nein!«, schrie sie auf und barg das Gesicht zwischen den Händen. »Ist das der Teufel? Will er mich auf seine Seite ziehen?«
»Nicht der Teufel, sondern Euer eigenes Blut ruft nach Euch. Ab jetzt werdet Ihr mit der Kraft des Mondes leben, denn Ihr seid eine Werwölfin.«
Eine Werwölfin? Sie riss die Augen auf. Von solchen Wesen hatte sie gehört, doch nur in den finsteren Märchen, die Ammen und Mütter erzählten. Bestien sollten es sein, halb Mensch und halb Tier, die in Vollmondnächten Kinder fraßen und die Ernte verdarben. Das konnte nicht sein!
Dann fielen ihr Pater Antons Worte wieder ein.
Hunyadi hat Teufelswesen in seinen Diensten. Grausame Tiere, die sich das Aussehen von Menschen geben können.
»Ich soll wie das Untier sein, das den Pater umgebracht hat?«, wisperte sie.
»Das war kein Untier«, erwiderte Gábor, »sondern mein Schüler Miklos in seiner wölfischen Gestalt.« Er nickte zu dem narbigen
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