Mondherz
bis Ihr wieder in bewohntes Gebiet kommt, wo Eure Wölfin das Vieh reißen wird. Was meint Ihr, was die Bauern mit Euch tun, wenn Ihr am nächsten Morgen nackt und hilflos im Dorf auftaucht?«
»Nein, ich …«, stammelte sie und schwankte unsicher hin und her. Sie hasste den Mann, der sie in ihrer Not auch noch verhöhnte. Der Gedanke an das Alleinsein raubte ihr jedoch fast den Verstand. Sie war nicht mehr sie selbst, sie konnte sich nicht mehr vertrauen. Wie sollte sie so nur weiter existieren? Sie schloss die Augen.
Lieber Gott, bitte …
Doch sie brach ihr stummes Gebet ab. Gott würde sie nicht erlösen, denn seit Antons Ermordung hatte er keines ihrer Gebete mehr erhört. Nur ihr eigener Tod konnte der Bestie ein Ende bereiten. Eine Träne suchte sich den Weg zwischen ihren Wimpern hindurch. Selbsttötung war eine Todsünde und würde ihr die ewigen Qualen der Hölle bescheren. Nein, sie hatte nicht die Stärke, heute diese Entscheidung zu treffen. Aber wie sollte sie sich alleine in dieser Nacht behaupten? Sie war vorerst auf Gábor angewiesen, ob sie wollte oder nicht. Trotz ihrer Angst suchte sie nach dem letzten Rest Kraft in ihrem Inneren. Sie öffnete die Augen, sah ihn an.
»Gut, ich bleibe bei Euch«, sagte sie. Sie schüttelte den Kopf, als er wieder nach ihrem Arm greifen wollte. »Ich kann alleine gehen.« Obwohl sie am ganzen Körper zitterte, hielt sie seinem Blick stand.
Er runzelte die Stirn, von ihrem Einlenken überrumpelt. Für einen Herzschlag wurden seine Augen heller, ein grauer Nebelschleier, der den schwarzen Fels verhüllte. Er trat einen Schritt zurück. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass er sie als eigenständiges Geschöpf wahrnahm, nicht nur als ängstlichen Schatten.
Sie gingen hinaus in den Apfelbaumhain. Unter dem Blätterdach der Bäume hatte die Nacht bereits Einzug gehalten und verwusch die Farben des Tages.
Sie bebte vor Anspannung. Mit aller Macht griff die Bestie wieder nach ihrem Bewusstsein, mit einem Rausch an Sinneseindrücken, der sie schwindeln ließ. Das Säuseln der Blätter im Wind. Der Ruf eines Vogels. Der holzige Duft der Bäume, überdeckt vom bitteren Aroma des Harzes. Über allem hing das Antlitz des Mondes, flüsterte lockend in ihrem Verstand. Überrascht stellte sie fest, dass sie Hunger hatte. Ihr Magen knurrte, und ihr Mund wurde trocken.
Sie wandte sich zu Gábor um, der ein Stück hinter ihr stehen geblieben war und an einem Baum lehnte. Er sah sie an. Mehr als ein Dutzend Schritte lagen zwischen ihnen. Sie hätte fliehen können, doch sie rührte sich nicht. Der Hunger wurde immer stärker. Dann gab etwas in ihrem Inneren nach, ein Widerstand zerbrach unter dem Ansturm der Empfindungen. Ihr alter Geist wurde von der neuen, wilden Natur in den Hintergrund gedrängt, nur ein kleiner Teil ihrer Seele fürchtete sich noch und kämpfte darum, wieder an die Oberfläche ihres Bewusstseins zu gelangen. Er schrie und bäumte sich ein letztes Mal gegen das Unausweichliche auf. Der größere Teil von ihr atmete jedoch erleichtert aus, als neue Kraft ihre Glieder durchflutete. Ohne nachzudenken, folgte sie dem Drang nach Freiheit und riss sich die Kleider vom Leib. Verwundert betrachtete sie Arme und Beine, die rasch von feinen Härchen überzogen wurden. Schmerz raste ihre Wirbelsäule empor und ließ sie den Rücken krümmen. Glühende Hitze breitete sich in ihren Muskeln und Knochen aus. Doch schon verschwand der Schmerz wieder und wich einem Gefühl unbändiger Lebenslust. Sie ließ sich auf alle viere nieder, hob den Kopf zu einem wilden Geheul und rannte in den Hain hinein, eine schlanke Wölfin mit Fell in der Farbe frisch gebundenen Heus.
Während sie vorwärtsstürmte, senkte sich die Nacht endgültig herab. Am azurblauen Himmel blinkten Sterne, und zwischen ihnen hing der runde Mond. Hinter dem Obstgarten breitete ein Wald seine duftenden Verlockungen vor ihr aus, und sie zögerte nicht, ihn zu betreten. Ihre Augen gewöhnten sich mühelos an die Dunkelheit.
Äste knackten, eine Eule schrie. Die Wölfin lief noch einige Schritte weiter, dann blieb sie stehen. Sie beherrschte ihren Körper, als hätte sie nie einen anderen besessen. Ihre Gedanken strömten jedoch nur träge, und es fiel ihr schwer, sich von den Sinneseindrücken der Umgebung nicht beherrschen zu lassen. Unschlüssig drehte sie den Kopf nach beiden Seiten. Ihr Schwanz klopfte aufgeregt auf den Waldboden.
Jäh raschelte es neben ihr und ein anderer Wolf brach aus dem
Weitere Kostenlose Bücher