Mondherz
Gebüsch. Er war größer als sie, breiter gebaut und von nachtschwarzer Farbe. Sie erkannte ihn instinktiv an seinem herben Duft, der ihr so vertraut wie ihr eigener war.
Spielerisch stieß er mit seiner Schnauze an die ihre, dann sprang er vorwärts und drehte sich auffordernd zu ihr um. Neugierig folgte sie ihm. Er war ihr Gefährte und sie vertraute ihm unbefangen, bewunderte seine wendige Gestalt und das kraftvolle Spiel seiner Muskeln. Sie spürte sein Blut im Gleichtakt mit dem ihren rauschen, eine Verbindung zwischen ihnen, die so stark war wie nichts, was sie bisher gekannt hatte. Entzückt heulte sie auf, während sie an seiner Seite lief. Der Wald wurde dichter, und sie sog gierig die Gerüche der Nacht in sich auf.
Nach einer Weile stupste ihr Gefährte sie drängend in die Seite, so dass sie ihre Konzentration wieder ihm zuwandte. Er schob sie auf ein Gebüsch zu, als hätte er dort ein bestimmtes Ziel.
Erstaunt richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Blätterwerk, und der Geruch eines Tieres stach ihr in die empfindliche Nase. Der Hunger, der durch den raschen Lauf nur verdrängt worden war, tobte in ihr mit neuer Kraft. Mit einem Satz sprang sie in das Gebüsch hinein, doch sie war zu langsam. Haken schlagend suchte der Hase das Weite. Ohne zu zögern, setzte sie sich an seine Fersen, lechzend nach seinem Fleisch. Die atemlose Jagd ging zu ihren Gunsten aus. Als sie die Zähne in das kleine Tier schlug, fiebernd vor Begierde und Vorfreude, war sie ganz Tier, kein menschlicher Geist beunruhigte sie mehr.
Ihr schwarzer Gefährte hatte sie eingeholt. Er ließ sich still neben ihr nieder und beobachtete ihr blutiges Mahl. Wenn er ihr ein Stück ihrer Beute streitig hätte machen wollen, hätte sie ihn wohl wütend angegriffen. Doch er näherte sich nicht, und später liefen sie in stiller Eintracht weiter.
Irgendwann kündigte sich der Morgen an. Der Mond folgte der Bahn der Nacht hinter den Horizont. Die Wölfin wurde unruhig, spürte, wie fremde Gedanken ihren Einklang mit dem Wald zu stören versuchten. Der Schwarze drehte sich um und begann, zielgerichtet zurückzulaufen, und sie folgte ihm auf dem Fuß. Als sie den Obsthain erreichten, zeigte sich in der Ferne bereits ein breiter Silberstreif. Ihr Gefährte blieb dicht neben ihr stehen. Seinen dunklen Blick wusste sie nicht zu deuten.
Während sie noch unschlüssig mit dem Schwanz wedelte, fuhr seine Schnauze über ihren Rücken. Jäh gruben sich seine Zähne in ihre Schulter, dort wo sie das feine Narbengewebe einer alten Bisswunde spürte. Der Schmerz durchfuhr ihre Glieder wie ein glühend heißer Windstoß.
Erschrocken heulte sie auf. Ihre Beine knickten ein, und graue Schlieren zogen an ihren Augen vorbei. Als sich der Nebel lichtete, schienen sich auch ihre Gedanken zu klären. Schmerz verwandelte sich in Zorn. Wütend stieß sie den schwarzen Wolf zurück.
»Was soll das?«, schrie sie ihn an. »Warum tut Ihr mir das an?«
Sie saß auf der Wiese, die vom Morgentau feucht war. Überrascht betrachtete sie ihre Arme, die mit einem weichen blonden Flaum überdeckt waren. Ansonsten war sie wieder die Alte. Nur die Narbe an ihrer Schulter war wund und juckte. Sie fuhr mit dem Finger darüber. Die Gefühle des Tiers verschwanden beinahe sofort, wichen hinweg vor dem Ansturm ihrer menschlichen Gedanken. Sie hatte es tatsächlich getan, hatte der unwiderstehlichen, furchtbaren Macht der Bestie nachgegeben. Angst, die alte Vertraute, kroch wie der kalte Leib einer Schlange in ihr empor, wand sich um ihre Gedanken und erstickte jeden Rest von Freude in ihr. Erschauernd zog sie die Schultern nach oben. Erst jetzt spürte sie, dass sie nackt war.
Sie drehte sich zu Gábor um. Er kniete hinter ihr, seine Blöße mit seinem Mantel bedeckt. Eilig kauerte sie sich zusammen, um ihre eigene Nacktheit vor ihm zu verbergen, und sah ihn ängstlich abwartend an. Trotz seiner Schlankheit hatte er starke Schultern, und deutlich zeichneten sich die Muskeln auf seinen Armen ab. Erneut fiel ihr auf, welch schöner Mann er war, und dann … lächelte er. Zum ersten Mal seit sie ihn kannte, sah sie ihn lächeln. Verblüfft starrte sie ihn an. Das Lächeln veränderte sein Gesicht, machte es jünger und weicher. Sie presste ihre Lippen fest zusammen. Er machte sich doch nur über sie lustig.
»Zieht Euch das über, sonst wird Euch kalt«, sagte er und warf ihr eine zerschlissene Tunika zu. Sein Lächeln war verschwunden. Eilig griff sie danach, froh, sich vor
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