Mondherz
in respektvollem Abstand hielten – zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn seine Gestalt zu wechseln. Als es dunkel wurde, schleppte sich der Werwolf an den Rand einer Lichtung, bettete abseits der Menschen den Kopf auf die Vorderpfoten und schlummerte ein.
Die Roma schürten ein Feuer, an dessen Rand sie sich niederließen. Ein gewachstes Tuch schützte die Gruppe vor Wind und Schnee und ließ sogar etwas Behaglichkeit entstehen. Paulo stimmte ein paar leise Weisen auf seiner Flöte an.
Unruhig vor Sorge fand Veronika kaum Schlaf. Wenn sie die Augen schloss, sah sie entweder die sterbenden Männer oder Viktors Wunde vor sich, und ihre müden Gedanken vermengten die Bilder zu einem düsteren, verzerrten Gemälde.
Als über den Tannen ein grauer, wolkenverhangener Morgen dämmerte, machte sich Viktor wieder auf den Weg. Die Zeit verging quälend langsam, während Veronika jeden schmerzhaften Schritt des alten Wolfes beobachtete. Endlich verließen sie den düsteren Nadelwald und kamen auf ein weites Schotterfeld, das sie überqueren mussten. Im gleichen Moment kam die Sonne hinter den Wolken heraus. Ein paar Roma fanden ihren Frohsinn wieder. Immerhin hatten sie Drăculeas Mannen besiegt! Nur noch wenige Stunden, und sie würden den Sfântul Munte wieder erreicht haben. Gerade wollte Veronika über einen Scherz von Solana lachen, als Viktor stehen blieb.
Seine Ohren zuckten. Er hob die Schnauze und zog prüfend die Luft ein. Auch die Roma schauten sich um, blickten über das Schotterfeld, zurück in den Wald und nach vorn, wo sich der Wald erneut ausdehnte und von riesigen Felsen durchbrochen wurde, von denen ein paar in das Schotterfeld hineinragten. Unbehaglich flüsterten sie, doch es schien, als könne keiner etwas Ungewöhnliches erkennen. Veronika löste sich von der Gruppe, die ihre Sinne nur verwirrte. Tief sog sie den Geruch des Waldes und der Berge in sich ein. Die Luft war klar, der Schnee hatte ihr eine frische und gereinigte Note verliehen. Und doch …
»Rauch«, rief sie. »Ich rieche Rauch.«
Im gleichen Augenblick knurrte Viktor so tief und durchdringend, dass es sich anhörte, als würde die Erde selbst das Geräusch hervorstoßen. Ohne sich noch einmal nach den Menschen umzuschauen, rannte er los.
Ilai brüllte einen Fluch und zog seinen Dolch. »Auf die Pferde«, rief er. »Wir bleiben bei Viktor!«
Die Roma folgten ihrem Anführer, stiegen auf und trieben auf dem unwegsamen Schottergelände ihre Pferde an, als sei der Teufel hinter ihnen her. Veronika war sich nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Trotzdem tat sie es ihnen gleich, mehr noch, sie versuchte, ihr Tier so schnell wie möglich an Ilais Seite zu treiben. Weiter vorne war der Wolf nur noch eine kleine Gestalt, die auf die Felsen und den Wald zurannte. Veronika spürte den Wind in ihrem Rücken. Jetzt wusste sie, warum sie den Rauch nicht früher gerochen hatte.
»Der Rauch kommt vom Sfântul Munte!«, rief sie. »Jemand hat dort ein Feuer gelegt. Sie warten vielleicht nur auf uns.«
»Wie zum Teufel sind sie dort hingekommen?«, schrie Ilai zurück. Seine grauen Haare flatterten im Wind, seine dunklen Augen blitzten vor Zorn.
»Sie können nur von Osten oder Süden kommen«, keuchte Solana hinter ihnen. »Es müssen Türken sein.«
Verbissen schüttelte Ilai den Kopf.
Veronikas Gedanken rasten. Ausgerechnet jetzt kamen die Türken? Das konnte kein Zufall sein. Viktor hatte geahnt, dass Drăculea sich mit ihnen verbünden würde. Waren die walachischen Soldaten dann nur ein Ablenkungsmanöver gewesen? Veronika kniff die Augen zusammen. Ein ungutes Gefühl ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Jede Faser ihres Körpers befahl ihr umzukehren.
»Halt«, schrie sie. »Das ist eine Falle!«
Die Roma gehorchten sofort, schlitternd kamen die Pferde zu stehen, doch es war zu spät. Ein Dutzend Pfeile flogen aus dem Wald auf sie zu. Ein Roma sank getroffen zu Boden, zwei andere sprangen von ihren scheuenden Pferden, aus deren Brust Pfeile stakten.
Erneut fluchte Ilai. »Wir müssen zurück«, rief er, dann weiteten sich seine Augen.
Veronika fuhr herum. Oberhalb des Schotterfelds waren Gestalten mit Turbanen und Säbeln hinter den Felsen hervorgeströmt. »Türken«, schrie sie. »Janitscharen!« Und dann hörte sie auch schon ihr Kampfgebrüll.
Wie hatte sie die Falle nur nicht bemerken können? Wieso war sogar Viktor ahnungslos hineingetappt? Im selben Moment noch wurde es ihr klar. Die Türken hatten gewusst, dass sie
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