Mondlaeufer
auch mehr zu verlieren, als ich jemals besaß.«
»Mehr zu verlieren?« Pol runzelte erstaunt die Stirn. »Meint Ihr nicht, dass ich mehr zu gewinnen habe?«
»Nein«, sagte Meath schroff. »Ihr seid für zwei Arten der Macht geboren. Ihr seid Prinz, und eines Tages werdet Ihr Lichtläufer sein.«
»Aber ich könnte alles verlieren. Ist es das, was Ihr meint?«, flüsterte der Junge. »Meath …«
»Ja?« Er senkte seine Hände zum Hals des Pferdes.
»Es war richtig, mir Angst einzujagen. Habt Ihr das bei Maarken auch gemacht?«
»Habe ich.« Er erneuerte bewusst seine Kontrolle über die blaugrünen Augen, und der blonde Kopf senkte sich. Meath wusste, dass diese Lektion von Sioned hätte kommen müssen – sie kannte selber beide Arten der Macht. Doch heute war der richtige Zeitpunkt, und er musste sichergehen, dass die Lektion verstanden wurde. »Es hat auch mir Angst eingejagt«, gab er zu. »Jeden Tag meines Lebens; bis ich mich selbst kennenlernte. Dazu ist die Ausbildung in der Schule der Göttin da, Pol. Sie lehrt Euch, Euren Instinkt und Eure Macht zu gebrauchen, aber sie lehrt Euch auch, wann Ihr sie nicht gebrauchen sollt. Es ist genauso wie mit Eurer Ausbildung als Knappe und Ritter. Ihr lernt Eure Kräfte als Krieger und als Prinz kennen.«
»Aber es gibt etwas, das ein Prinz manchmal tun muss, was den Lichtläufern aber verboten ist.«
Meath nickte. » Faradh’im dürfen ihre Gabe niemals zum Töten benutzen. Wenn Ihr Euch selbst kennt und Vertrauen in Euch selbst habt, Pol, werdet Ihr keine Angst mehr haben.« Er fuhr dem Jungen mit der Hand über die Schulter. »Kommt, lasst uns weiterreiten. Es ist spät.«
Sie waren fast am Tor, als Pol noch einmal ansetzte: »Meath? Habe ich heute das Richtige getan?«
»Muss ich diese Frage beantworten oder Ihr?«
»Ich glaube … ich glaube, es war richtig. Nein, ich bin sogar sicher.« Als sie unter dem steinernen Torrahmen hindurchritten, fügte er hinzu: »Aber wisst Ihr, es ist wirklich blöd. Ich muss die ganze Zeit an Willas zerbrochenen Kelch denken.«
An den Ställen trennten sie sich. Pol musste dem Herrn der Knappen Bericht erstatten, während Meath Chadric und Audrite über die Ereignisse des Tages informieren wollte. Die Geschichte wie auch die Gefangenen waren ihnen vorausgeeilt, und Lleyn befragte gerade die Kommandantin der Soldaten aus Griben. Chadrics ältester Sohn Ludhil brachte die irritierende Nachricht, dass es dem bärtigen Soldaten irgendwie gelungen war, sich in seiner Zelle zu erhängen.
Kurz darauf trat Lleyn in Audrites Sonnenzimmer. Mit seinen über achtzig Jahren war er wie brüchiges Pergament, das über Glas ausgebreitet ist. Er stützte sich auf seinen Holzstock und lehnte die Hilfe von Sohn und Enkel ab, als er sich setzte. Seine schönen, nicht mehr ganz scharfen Augen verengten sich, als er sie auf Meath richtete. Er faltete seine Hände über dem geschnitzten Drachenkopf am Handgriff seines Stocks und sagte: »Nun?«
»Herr, Eurem Gesicht zufolge weiß die Kommandantin aus Griben weder, wo der Merida herkommt, noch etwas über den Anlass des Streits«, sagte Meath mit einem Schulterzucken. »Vermutlich sagt sie sogar die Wahrheit.«
»Vermutungen interessieren mich nicht«, knarrte Lleyn. »Ich will wissen, was geschehen ist.«
»Pol meint, dass der Merida den Kampf absichtlich provoziert hat. Und da er sich selbst getötet hat, würde ich sagen, er hatte etwas zu verbergen.«
»Aber warum ausgerechnet jetzt dieser Anschlag auf Pols Leben?«, fragte Chadric. »Sie hatten doch bestimmt genug Gelegenheiten, als er noch auf Stronghold war.«
»Du solltest Gerüchten mehr Beachtung schenken«, sagte sein Vater. Als Audrite erschreckt den Atem anhielt, nickte Lleyn und sagte: »Ich sehe, meine Liebe, du hast mich verstanden.«
Chadrics klares, freundliches Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an. »Wenn du damit auf diesen angeblichen Sohn von Roelstra anspielst …«
»Er müsste knapp einundzwanzig sein. Pol ist gerade vierzehn«, bemerkte Lleyn.
»Aber das ist doch lächerlich!«, protestierte Audrite. »Selbst wenn der Junge wirklich Roelstras Sohn ist, müsste sich erst einmal die ganze Prinzenmark hinter ihn stellen. Und das wird nicht geschehen. Rohan hat gut daran getan, Pandsala als Regentin einzusetzen – nur ein Dummkopf wird Sicherheit und Wohlstand für einen unbekannten Emporkömmling aufs Spiel setzen.«
»Gut gesprochen«, brummte Lleyn und strich über den Drachenkopf, »aber leider ist
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