Mondlaeufer
Rohan nun mal ein ehrenhafter Dummkopf. Er wird sich verpflichtet fühlen, diesen jungen Mann zu treffen und ihn anzuhören.«
»Weder das eine noch das andere ist ein Beweis«, sagte Chadric, »das ist doch alles reine Spekulation.«
Meath sagte: »Gerade der Mangel an Beweisen macht doch Roelstras ›Sohn‹ so gefährlich.«
»Aber Lady Andrade«, erinnerte Audrite die anderen, »war doch in der Nacht der Geburt dabei.«
»Vielleicht weiß sie, was passiert ist, vielleicht aber auch nicht«, entgegnete Lleyn, »und trotz all ihrer Autorität als Herrin in der Schule der Göttin ist sie schließlich auch Rohans Tante und nicht gerade ein unparteiischer Zeuge.«
Chadric schüttelte den Kopf und erhob sich. »Es geht gar nicht darum, wer dieser junge Mann nun wirklich ist, Vater. Es geht vielmehr darum: Wiegt der Anspruch eines Blutsverwandten von Roelstra mehr als all die Jahre, in denen Rohan dieses Land, das er durch Krieg gewonnen hat, so gut regiert hat?«
Lleyns Augen funkelten: »Ich sehe mit Dankbarkeit, dass meine Erziehung nicht verschwendet war und dass du nicht nur die Augen, sondern auch den Verstand deiner Mutter geerbt hast. Du hast den Punkt getroffen, Chadric. Wen unterstützen wir, falls es so weit kommt? Wenn dieser Jüngling tatsächlich Roelstras Sohn ist, stellen wir uns dann auf seine Seite und unterstützen den Anspruch auf das Erbe, der schließlich Prinzen an der Macht hält? Oder stärken wir Rohan und seiner Herrschaft in Prinzenmark den Rücken?« Er lächelte dünn. »Eine solche Wahl ist für einen Prinzen nicht gerade angenehm.«
Meath beugte sich vor. »Hoheit, es muss sich doch erst noch zeigen, ob dieser Mensch wirklich der ist, für den er sich ausgibt. Doch selbst wenn er es nicht ist, wird es einige geben, die lieber glauben …«
»Oder so tun, als glaubten sie«, stimmte Lleyn zu, »nur um Unheil zu stiften. Wir müssen das Gegenteil beweisen.«
»Jetzt verstehe ich, warum Pol plötzlich eine Zielscheibe für die Merida wird«, sagte Audrite unbehaglich. »Miyon von Cunaxa gewährt ihnen noch immer Unterschlupf, auch wenn er das Gegenteil behauptet. Möglicherweise steckt er hinter dem heutigen Vorfall. Natürlich wird man nie etwas beweisen können. Doch ohne Pol als Erben der Prinzenmark würde dieser Emporkömmling mit offenen Armen aufgenommen werden, und Miyon würde lieber mit jemand anderem zu tun haben als mit Rohan oder dessen Sohn. Und ich verstehe jetzt auch, warum Rohan den Jungen diesen Sommer bei sich und in Waes haben will.«
»Sie wollen auch weiter zur Felsenburg«, bestätigte Lleyn.
Chadric wischte den Emporkömmling mit einer Hand vom Tisch. »Wenn sie Pol erst mal sehen und er sie so für sich gewinnt wie alle anderen …«
»Dann bleibt immer noch zu beweisen, dass der andere ein Lügner ist«, erklärte Lleyn. »Glaubst du, Leute wie Miyon werden Pol nur wegen seines – zugegebenermaßen gewinnenden – Lächelns unterstützen?«
»Es sind die Menschen der Prinzenmark, die er für sich gewinnen wird«, meinte Chadric.
»Die Menschen der Prinzenmark nehmen nicht am Rialla teil und stimmen dort für die Wahrheit. Die einzige verlässliche Zeugin ist Andrade, und sie muss einen Beweis erbringen, den die Prinzen als absolute Wahrheit anerkennen können.«
»Da wäre noch Pandsala«, warf Meath ein.
»Ach ja, Pandsala«, schnaubte Lleyn. »Darf ich Euch daran erinnern, dass die Regentin abdanken kann, wenn der Junge zum Hoheprinzen ausgerufen wird?« Er schüttelte den Kopf. »Ich mag das alles nicht. Überhaupt nicht. Meath, ehe Ihr von Radzyn aus in die Schule der Göttin aufbrecht, müsst Ihr unbedingt ausführlich mit Chay und Tobin reden.«
Viel später erst holte Meath in seinen eigenen Gemächern die Kiste mit den Schriftrollen heraus, die aus der alten Lichtläufer-Burg stammten. Sie waren in der alten Sprache geschrieben. Obwohl die Schrift der neuen sehr ähnelte, sagten ihm die Worte nichts. Doch manche Wörter waren bis zum heutigen Tag fast unverändert geblieben – bei der Wahl eines Vornamens wurde beispielsweise meist die alte Bedeutung berücksichtigt –, und als er eines der Pergamente entrollte, biss er sich auf die Lippe. Hier fehlte das übliche Motiv von Sonne und Monden auf der ersten Seite. Im Gegensatz zu allen anderen Schriftrollen waren die Lichtquellen für die Faradhi hier nicht abgebildet. Diese Rolle trug ein anderes Muster, einen sternenübersäten Nachthimmel. Lange starrte er auf den Titel, der ihn beim
Weitere Kostenlose Bücher