Mondmädchen
revoltieren? Ich blickte auf und sah, dass Zosima mich beobachtete. »Wo ist Bucephalus?«, fragte ich.
Sie sah mich verständnislos an.
»Sein kleines Pferd aus Onyx, das er aus Alexandria mitgenommen hat. Bitte. Ich will nicht, dass er alleine ist.«
Sie kramte in seinen Sachen herum und brachte es mir. Ein Überbleibsel aus Ägypten, ein Geschenk von unserem Vater. Ich legte es auf das Leinen zwischen seine verschränkten Arme. »Damit du Gesellschaft hast«, flüsterte ich.
Dann griff ich mir an die Brust und riss mir das kleine Amulett mit dem Isisknoten vom Hals, das früher unsere Mutter getragen hatte. Ich legte es auf Höhe des Herzens auf seine Brust. »Möge dein Herz leicht sein gegen die Feder der Wahrheit«, betete ich.
Ich bedeckte das Amulett und das Pferd mit einer letzten Schicht von Leinenstreifen.
Der Kapitän befahl mehreren Ruderern, den Leichnam an Deck zu bringen. Nur zwei erklärten sich bereit zu helfen. Der Rest der Mannschaft sah uns zu, einige murrten, andere legten zwei Finger ihrer rechten Hand über ihr Herz als Zeichen des Schutzes gegen das Böse. Ich hob das Kinn, als wir an ihnen vorbeigingen.
Im grauen Licht der Dämmerung vor Sonnenaufgang brachten die Männer den Leichnam meines Bruders auf die westliche Seite des Bootes, denn im Westen herrschte Osiris, der Gott der Toten. Ich stand neben dem bandagierten Leichnam meines toten Zwillingsbruders. Sie warteten auf mein Zeichen. Aber ich vermochte nicht, es zu geben.
»Werft sie auch mit über Bord!«, rief jemand hinter mir.
Die Mannschaft stimmte ein. »Sie führt den Tod mit sich, genau wie ihre Mutter!«
»Sie bringt Unglück – seht nur, was mit Antonius geschehen ist!«
Ich richtete mich auf und spürte, wie Zosima näher zu mir trat.
»Ruhe! Seid alle still! Bringen wir es hinter uns«, schrie der Kapitän.
Ich schloss die Augen, um zu beten. Aber ich kannte die althergebrachten Gebete für die Toten nicht. »Vergib mir, dass ich die heiligen Worte nicht kenne, oh Anubis, schakalköpfiger Gott der Totenriten«, hob ich an. »Im Namen von Osiris, bitte schütze diesen Sohn Ägyptens, damit sein Ka im glücklichen Aaru mit allen, die er geliebt hat und die ihn geliebt haben, leben kann. Bewahre sein Herz, sodass er deine Prüfung gegen die Feder der Wahrheit bestehen kann.«
Ich hörte ein Raunen hinter mir und spürte die ersten warmen Sonnenstrahlen auf meinem Rücken. Ich schlug die Augen auf. Es war an der Zeit. Aber wieder konnte ich den Befehl nicht erteilen. Mir schnürte sich die Kehle zusammen, bis sich nur noch ein Hauch von Atem mühsam hindurchkämpfen konnte.
Gemurmel hinter mir. »Worauf wartet die Hexe noch? Die Sonne geht auf!«
Mögen sich unsere Kas im Jenseits vereinen, Bruder …
Ich holte tief Luft und nickte. Die Männer ließen Alexandros los. Ich sah zu, wie der bandagierte Leichnam meines Bruders in einem langsamen weißen Wirbel im kalten Wasser des Mittelmeers verschwand.
Am liebsten wäre ich hinterhergesprungen.
»Jetzt ist es vollbracht«, rief der Kapitän. »Alle Mann auf ihre Posten. Wir müssen diese Reise so schnell wie möglich hinter uns bringen.«
Ich starrte aufs Meer hinaus, versuchte zu atmen, versuchte zu begreifen, wie ich hierher geraten war. Eine Tochter ohne Mutter und nun eine Schwester ohne Bruder. Wie war es dazu gekommen, dass ich nicht mehr eine ägyptische Prinzessin war – die Tochter der mächtigsten Königin der Welt –, sondern eine römische Gefangene und nun die Braut eines unbedeutenden Herrschers irgendwo im afrikanischen Busch?
Ich schloss die Augen und erinnerte mich an den sanften Atem meiner Mutter an meinem Ohr, während sie mir zuflüsterte: »Du hast das Herz einer großen und mächtigen Königin.« Das waren die letzten Worte gewesen, die sie an mich gerichtet hatte, und ich hatte mich mein ganzes Leben lang bemüht, sie wahr werden zu lassen. Aber ich war gescheitert. Ich hatte alles verloren, ich hatte jeden einzelnen Menschen verloren, den ich jemals geliebt hatte.
Warum? Warum habt ihr mich verflucht?, fragte ich die Götter. Warum habt ihr meine Familie verflucht?
Aber ich bekam keine Antwort. Ich hörte nur das Knarren der Seile, das Flattern der Segel, das Klatschen des Wassers gegen den Schiffsrumpf.
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T EIL I : Ä GYPTEN
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~ Kapitel 1 ~
Im 17. Jahr der Regentschaft meiner Mutter
In meinem 7. Jahr
34 v.d.Z.
Was hatte die Götter bewogen, über meine Familie herzufallen wie ausgehungerte Löwen in einer
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