Mondmilchgubel Kriminalroman
sie Iris vor sich, die verkrümmt am Boden liegt und um Hilfe schreit.
Es hat lange, viel zu lange gedauert, bis Iris erkannte, dass sie zugunsten ihres bequemen Lebensstils sich selbst aus den Händen gab. Zweieinhalb Jahrzehnte lang bestimmte Kuno ihr Leben. Viktoria stellte sich Iris als junge, unentschlossene Frau vor. Sicher war sie nach ihrer frühen Ehe sogar froh gewesen, dass jemand ihr Leben plante und für sie sorgte. Gut möglich, dass sie sich Kunos Wesen anpasste, ohne darunter zu leiden. Wie sehr er sich in den ersten Ehejahren um seine Frau bemüht hatte, erfuhr sie erst vor Kurzem. So merkte er sich zum Beispiel alle Einzelheiten aus ihrem Leben. Er prägte sich Alltäglichkeiten ein, was für Kleider sie gern trug, welche Aufmerksamkeiten sie besonders mochte. Er las ihr buchstäblich jeden Wunsch von den Lippen ab. Sicher war Iris von seiner Zuwendung beeindruckt gewesen. Trotzdem nahm sie das Wort Liebe nie in den Mund. Schwer zu sagen, was sie für ihren Mann wirklich empfunden hatte. Vielleicht haben sie nur Schuldgefühle oder gar Mitleid so lange bei ihm ausharren lassen?
Viktoria denkt an ihre eigene Ehe, die glücklicher nicht hätte sein können. Zwischen ihr und Lucien gab es viele verbindende Elemente, auch gemeinsame Werte, die ihre Ehe festigten. Während sie und Lucien nie Kinder wollten, hatten die Brunners sich vergebens welche gewünscht. Iris fand sich damit ab, verlor jedoch zunehmend das Interesse an ihrem Mann. Für ihn dagegen war seine ärztlich beglaubigte Zeugungsunfähigkeit ein schwerer Schlag, der zur Folge hatte, dass er seine Frau häufiger als je zuvor sexuell bedrängte. Gewiss war es für Kuno eine einschneidende Veränderung gewesen, als Iris auf einem eigenen Schlafzimmer beharrte. Und sicher ließ er sie seine Enttäuschung darüber auch spüren.
Sphinx bemerkt Viktorias Unruhe. Mit einem Satz springt er auf den Boden und verschwindet durch die offene Haustüre. Iris hätte sich nie auf eine Kampfscheidung eingelassen, weil sie Konflikte verabscheute. Sie gab lieber nach, als sich mit einem Problem auseinanderzusetzen. Sie hoffte, dass ihr Mann sie eines Tages verlassen würde und sich so ihre Eheprobleme von selbst lösen würden. Es gibt im Dorf tatsächlich genug Interessentinnen, die hinter Kuno her sind. Auf viele Frauen wirkt ein reifer, erfolgreicher Mann, der es außerdem versteht, durch seine galante Art das weibliche Geschlecht für sich einzunehmen, wie ein Magnet. Wäre da nicht dieser strenge, kühle Blick aus seinen grauen Augen … Immer mehr Gedanken drängen sich ihr auf. War Kuno seiner Frau heimlich in den Mondmilchgubel gefolgt? Sprach er sie an diesem unseligen Morgen auf ihr spätes Heimkommen an? Hatte Iris gar gewagt, ihm die Trennung vorzuschlagen? Falls ja, so hat er das sicher nicht einfach so hingenommen. Sie denkt an Manuel Vinzens, der Iris’ Heuschnupfen wegtherapiert und gleichzeitig ihr Herz erobert hatte. Bevor Iris ihn kannte, galt ihre ganze Aufmerksamkeit der Natur. Sie konnte nicht genug davon bekommen, durch ihren Feldstecher Insekten und Blumen zu beobachten und sich durch den Zauber dieses Mikrokosmos einlullen zu lassen. In der Natur kreisten ihre Gedanken in Bahnen, die für die meisten Menschen unfassbar waren. Im Wald und in den Bergen blühte sie auf, während sie zuhause eine Gefangene ihrer Unentschlossenheit war. Viktoria ballt ihre Hände zu Fäusten. Warum musste Iris ausgerechnet jetzt sterben? Sie hatte sogar eine Stelle in Aussicht.
Viktoria fühlt sich ausgepumpt und leer. Sie quält sich aus dem Stuhl und wankt Richtung Küche. Dass Iris den schönsten Teil ihres Lebens nicht mehr erleben darf, macht ihren gewaltsamen Tod schier unerträglich. Sie sieht den Mondmilchgubel vor sich, spürt den Zorn, der sich im Würgegriff des Täters entladen hat. Hass wallt in ihr auf. Wie ungerecht das Schicksal doch ist, denkt sie verbittert. Schweren Herzens kocht sie die Speisen, die für Iris bestimmt waren. Weinend sitzt sie am Tisch, während Sphinx gierig das Essen verschlingt.
Kapitel 9
Viktoria weiß, was zu tun ist. Sie nimmt den Weg über das Sagenraintobel. Es tut ihr gut, den Boden unter den Füßen zu spüren. Iris wählte immer den Weg durchs Tobel, wenn sie zu Besuch kam, selbst wenn es regnete.
Wenn man entlang des durch unzählige Stufen gezähmten Schmittenbachs wandert, entdeckt man geheimnisvolle, mit Efeuranken und Moos überwachsene Steinriesen, die vor langer Zeit auf dem Rücken der
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