Mondmilchgubel Kriminalroman
mit blühenden Geranien geschmückt. Auf der Wiese vor dem Haus gibt es ein paar verwitterte Apfelbäume, deren gefurchte, tiefrissige Stämme im Laufe der Zeit eine Patina aus Flechten und Moos angesetzt haben. Noch immer tragen die alten Bäume Früchte. Das Haus hat schon vielen Unwettern getrotzt. Ende der 40er-Jahre wälzte sich eine Schlammlawine wie durch ein Wunder am Haus vorbei. Wenige Jahrzehnte später schlug der Blitz in das Dachstockgebälk ein, das dadurch ausbrannte.
Bis die Weberei Ende des letzten Jahrhunderts endgültig stillgelegt worden war, arbeitete Karl Honegger als Magaziner. Er hat drei Söhne. Zwei sind weggezogen, einer sogar bis nach Neuseeland, wo er eine Schaffarm betreibt. Kari ist der Jüngste, ein Nachzügler. Als er auf die Welt kam, war Honeggers Frau bereits weit über die 40. Sie hatten nicht mehr mit einem weiteren Kind gerechnet, es aber als Geschenk des Allmächtigen angesehen, als Kari Junior nach einer schweren Frühgeburt schließlich den ersten Schrei tat.
Die Honeggers sind weitgehend Selbstversorger. Früher war Karl auf die Jagd gegangen, erlegte Rehe und Hirsche. Er wurstete und räucherte für die ganze Verwandtschaft. Heute überlässt er die Jagd den Jüngeren. Seine steifen Beine tragen ihn nicht mehr die steilen Höger hinauf. Seit dem Tod seiner Frau übernimmt er die Gartenarbeit, während seine Schwägerin den Haushalt besorgt. Die Hühnerställe und die umzäunte Wiese liegen weiter unten am Hang. Neben den Ställen wachsen kräftige Holunderbüsche, deren ausladende Äste die Wiese beschatten. Kari Junior findet es lustig, im Gras zu sitzen und den Hühnern dabei zuzuschauen, wie sie mit gewagten Hüpfern versuchen, die Beeren zu erhaschen.
Als Karl Honegger die große, füllige Frau auf sich zukommen sieht, bleibt er stehen. Er hat sie hier noch nie gesehen, obwohl ganz sicher ist er sich nicht. Es kommen häufig neue Leute vorbei, um Eier zu kaufen. Im Gegensatz zu seinem Sohn kennt er längst nicht alle Kunden. Zum Glück helfen ihm seine Schwägerin und ihr Sohn mit den Hühnern. Seine arthritischen Hände haben Mühe, die Eier in die Kartons zu legen, und für die steifen Beine ist der Hang eine Tortur.
»Guten Tag, Herr Honegger. Ich bin Viktoria Jung. Ich wohne dort drüben.«
Er ist froh, dass sie laut und deutlich spricht. Sein Gehör will nicht mehr so recht. »Sie wohnen im Oberholz?«
»Etwas außerhalb. Im ehemaligen Haus vom Anneli Schnyder.«
»Ach so, die. Ja, ja …« Er seufzt. Das Anneli starb noch vor seiner Frau. Danach stand das Haus leer. Annelis Tochter brachte es lange nicht übers Herz, ihr Elternhaus zu verkaufen. »Aber dort gibt es doch gar keine richtige Heizung?«
»Ich habe das Haus umgebaut.« Sie kramt in ihrer Handtasche. »Hier, sehen Sie. So sieht es heute aus.«
Er betrachtet die Bilder aufmerksam, streicht dabei mit dem Handrücken über seine zerfurchte Stirn. »So, so.« Er gibt der Fremden die Fotos zurück.
»Haben Sie einen Moment Zeit für mich? Es geht um Ihren Sohn.«
»Sind Sie von der Polizei?« Sein Gesicht verschließt sich. Er hat sein ganzes Leben noch nie mit der Polizei zu tun gehabt, und jetzt lassen sie ihm keine Ruhe mehr.
»Nein, ich bin die Freundin von Iris Brunner, die gestern im Mondmilchgubel tot aufgefunden wurde.«
»Dann kommen Sie herein, wenn es unbedingt sein muss.«
»Es dauert nicht lange.«
Er nickt bedächtig. Er weiß, dass die jungen Leute es immer eilig haben.
»Eine gemütliche Küche. Sie erinnert mich an die Küche meiner Großmutter.«
»Sie können sich dort drüben hinsetzen. Nein, nicht hier. Das ist Karis Platz.«
Es klingelt.
»Das Telefon läutet ununterbrochen, seit sie meinen Bub mitgenommen haben. Wenn ich draußen im Garten oder unten bei den Hühnern bin, höre ich das Läuten nicht.« Er seufzt. »Die Leute lassen einem keine Ruhe. Aber eben, jemand muss die Eier ja kaufen. Die Hühner hören nicht auf, Eier zu legen, nur weil sie meinen Bub abgeholt haben.«
»Ich will Sie nicht aufhalten, Herr Honegger«, hört er die Fremde sagen, deren Namen er bereits wieder vergessen hat. »Ich wollte Ihnen bloß sagen, dass ich überzeugt bin, dass Ihr Sohn meine Freundin nicht umgebracht hat.«
Er neigt seinen Kopf etwas vor, dreht ihn leicht zur Seite, um besser zu hören. Natürlich hat sein Bub die Frau nicht getötet. Er streicht sich mit der Hand über die feuchte, sonnenverbrannte Stirn, starrt auf die geschwollenen Fingergelenke. Heute ist der
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