Mondmilchgubel Kriminalroman
Schmerz besonders stark. Wieder schellt das Telefon. Er zwingt sich mit einem Ächzen auf und geht hinaus in den Flur. »Sie haben meinen Bub gestern einfach mitgenommen und mich erst danach informiert. So konnte ich ihm nicht einmal frische Wäsche mitgeben«, beklagt er sich, als er zurückkommt.
»Das tut mir sehr leid. Wenn Sie wollen, werde ich dafür sorgen, dass er seine Wäsche bekommt.«
Er winkt ab. »Wann kann mein Bub wieder nach Hause?«
»Sie können Ihren Sohn höchstens bis morgen Nachmittag in Polizeihaft behalten.«
»Kari braucht seine Familie und seine Hühner.« Es ist Zorn, der seine trüben Augen zum Leben erweckt. »Ich habe der Polizei gesagt, dass mein Bub kein Mörder ist. Wissen Sie, dass er jedes Mal weint, wenn eines seiner Hühner stirbt?«
»Nein, das wusste ich nicht.«
»Was macht die Polizei jetzt mit ihm?«
»Sie nehmen seine Fingerabdrücke und Speichelproben für die DNA-Analyse. Dann wird sich sicher bald herausstellen, dass Ihr Sohn nicht der Täter ist.«
Wieder klingelt das Telefon, doch diesmal lässt er es läuten. »Mein Bub hat mit der Polizei noch nie etwas zu tun gehabt. Sie haben mir gesagt, dass er sein Gedächtnis verloren hat. Zum Glück muss mein Klärli das nicht mehr miterleben.«
»Ja, eine Amnesie ist etwas Schlimmes.«
»Als ich noch in der Weberei gearbeitet habe, ist das einem meiner Arbeitskollegen passiert. Aber der hatte einen Hirntumor. Nicht einmal seine eigene Frau konnte er am Schluss noch erkennen.«
»Ihr Sohn weiß im Moment nicht mehr, wer er ist, noch woher er kommt«, fährt die Fremde fort. »Wie es aussieht, hat er etwas ganz Schlimmes erlebt, etwas, das er nicht verkraften kann. Ein Gedächtnisverlust kann viele Ursachen haben. Ein Tumor ist eine davon.«
»Sicher wird er sich an mich erinnern. Schließlich bin ich sein Vater.«
»Sie und Ihre Schwägerin werden vielleicht sehr viel Geduld mit ihm haben müssen. Es kann sein, dass er viele Fragen stellen wird.«
»Sie sollen meinen Buben nach Hause schicken. Er braucht uns jetzt. Wir verstehen uns auch ohne Worte. Beim Klärli war es anders.« Ein Lächeln huscht über sein müdes Gesicht. »Die beiden haben ununterbrochen miteinander geschwatzt und gelacht. Ja, sie haben sich gut verstanden, meine Frau und mein Bub. Es ging ihm gestern Morgen doch noch so gut. Er hat gepfiffen, als er losgefahren ist. Ich kann einfach nicht glauben, dass er sich an gar nichts mehr erinnert.«
»In der Regel ist ein Gedächtnisverlust nur von kurzer Dauer. Vielleicht hat Ihr Sohn gesehen, wie jemand Iris Brunner umgebracht hat, oder er hat die Tote im Wald entdeckt und dabei einen Schock erlitten.«
»Ja, wie damals bei meinem Klärli.« Er schnäuzt sich die Nase. »Damals war das Klärli mit ihm im Hühnerstall. Sie haben die Eier eingesammelt, so wie sie es immer zusammen getan haben. Dann ist das Klärli neben ihm plötzlich tot zusammengebrochen. Herzstillstand, sagte der Arzt, obwohl mein Klärli mit ihrem Herz nie Probleme hatte.« Er verstummt, sieht seine Frau vor sich. »Zuerst hat mein Bub eine ganze Woche kein einziges Wort mehr gesprochen, als habe mein Klärli seine Sprache mit sich in den Tod genommen. Der Bub hat erst wieder zu sprechen begonnen, als er seine Mutter im offenen Sarg gesehen hat. Danach hat er eine Woche lang Tag und Nacht geheult. Das war eine schlimme Zeit, eine ganz schlimme Zeit. Erst als der Arzt ihm Beruhigungstabletten verschrieben hat, wurde es besser. Ihr Tod jährt sich heuer zum achten Mal.« Das Reden hat ihn angestrengt. Er möchte, dass die Fremde geht, doch sie hört nicht auf zu fragen.
»Wann ist Ihre Frau gestorben?«
»Am 22. Juni.«
»Heute ist der 22. Juni. Es tut mir leid, dass Sie am Todestag Ihrer Frau wieder eine schlimme Sache durchmachen müssen.«
»Man kann sein Schicksal eben nicht aussuchen. Ich tu, was ich kann. Wenn mein Bub sich an nichts mehr erinnert, so werden sich seine Hühner wenigstens an ihn erinnern.«
Die Fremde lächelt. »Ich hoffe, dass Ihr Sohn bald wieder gesund wird.«
»Erst mein Klärli und jetzt Kari. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch mache.«
»Hier bei Ihnen wird Ihr Sohn sein Gedächtnis am ehesten wiederfinden«, fährt die Frau fort. »Und wenn es so weit ist, wird er uns vielleicht sagen können, wer meine Freundin wirklich ermordet hat.«
»Der Polizist hat seine Telefonnummer hier gelassen, aber ich weiß nicht mehr, wo ich sie hingelegt habe.«
Die Fremde reicht ihm zwei
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