Mondmilchgubel Kriminalroman
Gletscher hierherreisten. Märchenhaft gewundene Bäume, die einem ihre Äste entgegenstrecken, geben den Steilhängen Halt. Doch da sind auch Relikte alter Industriegeschichte. Neben ausgetrockneten Kanälen gibt es rostige Schieber oder unter Steinen versteckte, zerfallene Stauwehre und Wasserfassungen, die langsam, aber sicher von der Natur zurückgefordert werden. Das Sagenraintobel ist schon Energielieferant für die Textilindustrie und Wasserspeicher für die Gemeinde Wald gewesen, bevor es mit Wanderwegen und Brücken zu einem Naherholungsgebiet ausgebaut wurde. Das Tobel mit seinen schäumenden Wasserfällen und beschaulichen Ruheplätzen ist aber nicht nur eine idyllische Oase, sondern auch eine Bedrohung bei Unwettern. Es kommt immer wieder vor, dass bei Gewittern die Brücken vom Bach weggerissen werden.
Viktoria weiß, dass die Natur hier das Gleichgewicht aufrechterhält. Wenn sich der Himmel wie eine Schleuse öffnet, die Blitze sich entladen, wenn das mächtige Donnergrollen in den Felsen widerhallt, sich pechschwarze Wolken vor die Sonne schieben, dann verwandelt sich diese Waldschlucht in ein Ungeheuer. Kein Wunder, dass man das Herz dieser Gegend die Hölle nennt.
Auch sie und Iris wurden hier einmal von einem Unwetter überrascht. Noch heute bekommt sie Gänsehaut, wenn sie an diesen Nachmittag im Spätherbst zurückdenkt. Die Bäume krümmten sich von den Sturmböen, und ihre Kronen schlugen krachend aufeinander. Während sie vor Angst und Nässe zitterte, klatschte Iris vor Freude in die Hände und streckte ihr schmales Gesicht dem Regen entgegen. Ja, manchmal hat sich die zierliche Iris in einen wilden Kobold verwandelt.
Töng, Töng, Töng, tönt es bei jedem Schritt, als sie über den Plättliweg schreitet. Dieser mit Steinplatten gedeckte Kanal bringt das Wasser auf einer 800 Meter langen Strecke von der Wasserfassung Hinterwald in den Haltbergweiher. Der Plättliweg gehört zur Gemeinde Wald wie das Matterhorn zu Zermatt. Trotzdem kommt es Viktoria so vor, als stünden die Steinplatten kurz vor dem Zerfall. Sie schreitet zügig voran. Als sie das ehemalige Kosthaus erreicht, ist sie nass von Schweiß. Schon beim ersten Klingeln öffnet sich die Haustüre mit einem Surren. Sie keucht die vielen Treppenstufen hoch.
»Ach, du bist es. Ich dachte, es sei wieder die Polizei.«
»Guten Abend, Kuno, darf ich einen Moment hereinkommen?« Sie versucht, ihre Abneigung gegen ihn auszublenden, sieht, wie er nur widerwillig zur Seite tritt. Sie bleibt im hell erleuchteten Korridor stehen. Der drahtig wirkende Mann mit den schmalen, zusammengekniffenen Lippen und den grauen Augen sieht erschöpft aus. »Sollen wir uns in die Küche setzen?«, schlägt sie vor.
»Ich habe keine Zeit. Ich muss weg«, bemerkt er kurz angebunden und bleibt im Flur stehen.
Sie streckt ihm ihre Hand entgegen. »Mein herzliches Beileid.«
Kuno verschränkt abwehrend die Arme vor seiner Brust und blickt sie finster an. »Ohne dich würde meine Frau vielleicht noch leben.«
Das leise Mitgefühl, das sie soeben noch verspürte, erlischt.
»Du und diese Kesselring, ihr habt meiner Frau all die Flausen in den Kopf gesetzt.«
Welche Kesselring? Sie verzichtet wohlweislich darauf, ihn zu fragen.
»Meine Frau hat sich durch euren Einfluss negativ verändert. Früher trieb sie sich nie allein im Wald herum, und am Abend ging sie auch nicht dauernd aus.«
Die Kälte in seiner messerscharfen Stimme macht sie stinkwütend. »Ach so, daher weht der Wind. Weißt du, was ich glaube?«
»Dein Glaube interessiert mich nicht«, ereifert er sich.
Es ist das Adrenalin, das sie böse weitersprechen lässt. »Könnte es sein, dass du«, sie zeigt auf ihn, »deine Frau umgebracht hast?« Sie lässt ihm keine Zeit zum Antworten. »Du hattest ein Motiv und was für eines. Eifersucht.«
»Du bist wohl vollkommen übergeschnappt. Ich habe meine Frau geliebt, mehr als eine Schlampe wie du es sich je vorstellen kann.«
»Könnte es sein, dass du Liebe mit Besitz verwechselst?«
»Wer gibt dir das Recht, unsere Liebe in den Schmutz zu ziehen und von dir auf andere zu schließen?«
»Mir kommen die Tränen«, faucht sie. »Nicht einmal arbeiten gehen durfte sie, geschweige denn länger als bis Mitternacht ausgehen.«
»Meine Frau war froh, nicht wie viele andere Frauen arbeiten gehen zu müssen«, verteidigt er sich. »Aber das kann eine wie du nicht verstehen.«
»Vielleicht hast du Iris umgebracht, weil du es nicht ertragen
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