Mondmilchgubel Kriminalroman
nicht?«
»Ach was. Alles faule Ausreden.«
»Ich kenne niemand, der nicht in der einen oder anderen Form traumatisiert ist. Nur haben nicht alle Menschen eine so dünne Haut wie der Eierkari.«
»Ich finde, du nimmst ihn zu sehr in Schutz.«
Sie lässt Kuno nicht aus den Augen. »Vielleicht hat dieser Edelmann Iris getötet?«
»Solche kranken Kerle sollte man auf jeden Fall nicht frei herumlaufen lassen. Hätte ich von der Sache gewusst, hätte ich ihm den Garaus gemacht.«
»Iris wollte ihn bei der Polizei anzeigen.«
»Wollte, wollte … sie hat es aber nicht getan.« Sein Gesicht wird hart. »Das zeigt, wie unentschlossen meine Frau war. Ja, sie hatte viele Ideen, doch umgesetzt hat sie diese nie. Ich muss los. Es gibt noch viel zu tun. Meine Frau soll ein anständiges Begräbnis bekommen.«
»Lass es mich wissen, falls ich dir bei den Vorbereitungen behilflich sein kann.«
»Nicht nötig, meine Mutter hilft mir.«
Jeder im Dorf kennt die rüstige, resolute Frau. Ihr Mann starb an einem Unfall, als Kuno eingeschult wurde, doch sie ließ sich nicht unterkriegen. Viktoria sieht die hagere Alte vor sich, deren wachsamen Augen nichts entgeht, und die ihren Rücken gerade hält wie ein Schweizer Gardist. Wenn die alte Frau ihren Mund öffnet, feuert sie tödliche Schüsse ab, und ihre Sätze enden immer mit einem Vorwurf. Iris tolerierte ihre Schwiegermutter, genauso wie alles andere in ihrem Leben.
Viktoria betrachtet die Geburtstagskarte, die Kuno ihr überreicht hat.
Liebe Viktoria, ich schenke dir dieses Buch, auch auf die Gefahr hin, dass du es nicht lesen wirst. In Freundschaft. Iris.
Sie packt das Päckchen aus. Es war typisch für Iris, ihr ein Buch zu schenken, das eine Liebeserklärung an die Erde ist. Sie streichelt den Einband, auf dem ein Steinkreis zu sehen ist. Sie bewundert die Zeichnungen, die innerhalb des Buches als Kraftfelder wirken, und die so gestaltet sind, dass sie mit verschiedenen Qualitäten des Erdbewusstseins in Resonanz stehen. Während sie es durchblättert, fällt ihr Blick auf einen Satz, der sie traurig stimmt. ›Noch immer denken wir, dass die Wirklichkeit so ist, wie sie immer war! Das ist gar nicht wahr! Was wir sehen, ist nur eine Erinnerung an die Erde, wie sie einst war!‹
Nachdem sie eine Kleinigkeit gegessen hat, steigt sie in den Keller, um die Schachtel mit den Briefen zu holen, die Manuel an Iris geschrieben hat. Vorsichtshalber hat er seine Nachrichten ins Oberholz geschickt, und Iris hat sie auch hier aufbewahrt.
Die Schachtel liegt zuoberst auf dem Weingestell. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und greift danach. Auf dem Rückweg stolpert sie über den Saum ihrer weiten Hose. Die Schachtel fliegt ihr aus der Hand, der Deckel löst sich und die Briefe schlittern über den Lehmboden. Sie rafft sich fluchend auf und reibt sich das schmerzende Knie. Die Treppe herunterstürzen ist eine Sache, die Treppe hinaufstürzen eine andere. Das kommt davon, wenn man schlummernde Dämonen weckt. Lucien hatte ihr über die Jahre Hunderte von Liebesbriefen geschrieben.
Manuels Briefe liegen im Keller zerstreut. Vorsichtig steigt sie die steilen Stufen wieder hinab. Zurück in der Küche holt sie zwei Eisbeutel und humpelt hinüber zum Sofa. Sie säubert jeden Umschlag mit einem Staublappen. Dabei stößt sie auf ein loses, zusammengefaltetes Papier. Wie sich herausstellt, eine Fotokopie eines Briefes, den Iris an Manuel geschrieben hat.
Kari ist echt, deshalb mag ich ihn. Vor ein paar Tagen ist sein Lieblingshuhn gestorben. Er war furchtbar traurig. Heute Morgen habe ich ihm erzählt, dass ich bald von hier wegziehen werde. Stell dir vor, da ist er richtig wütend geworden. Ich habe versucht, ihn zu beruhigen, doch er hat meine Hand abgeschüttelt. Dann ist er plötzlich mit den Fäusten auf mich losgegangen …
Iris hat den Brief eine Woche vor ihrem Tod geschrieben. Sie sieht Kari mit seinen kräftigen Händen vor sich. War auch er in Iris verliebt gewesen?
Als ich ihn anflehte aufzuhören, ist er heulend zusammengebrochen. Erst als ich ihn in den Arm genommen habe, hat er sich wieder beruhigt. Ach Manuel, es war mir bis heute nicht bewusst, wie sehr er an mir hängt. Ich kann es nicht ertragen, wenn andere Menschen wegen mir leiden.
Viktorias Herz zieht sich zusammen. Wenn Kari Iris wirklich getötet hat, so ist es besser, wenn er sich an nichts erinnert. Die Wahrheit würde er niemals verkraften. Sie zügelt ihre
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