Mondmilchgubel Kriminalroman
mich fehl am Platz. So geht das halt, wenn man 60 Jahre lang alles miteinander geteilt hat.«
Kapitel 16
Als Viktoria sie darum bat, war Lisa Kesselring mit einem Treffen in Winterthur sofort einverstanden. Die Stadt Winti, wie sie von Einheimischen genannt wird, liegt im Kanton Zürich, zwischen dem Weinland im Norden und dem hügeligen Tösstal im Süden. Über 100.000 Einwohner zählt der Ort inzwischen, der zu allen Tageszeiten pulsiert und der mit seinem kulturellen Angebot seiner großen Schwester Zürich Konkurrenz macht.
Viktoria flucht über die Hitze, die über den Asphalt kriecht und sich zwischen den Häuserzeilen staut. Das schwüle Wetter hat ihr schmerzendes Knie anschwellen lassen. Das Gehupe und Gedröhne um sie herum führt ihr vor Augen, wie sehr sie sich an die Stille auf dem Land gewöhnt hat. Die Gassen sind überfüllt mit Menschen, die sich auf den Feierabend einstimmen. Jede Gaststätte kämpft um ihr Territorium, stellt nach Möglichkeit noch ein paar Tische auf die Straße.
Zur Begrüßung wird Viktoria von Lisa umarmt, die mindestens einen Kopf kleiner ist. Die mollige Frau mit dem runden, lachenden Gesicht strahlt eine überwältigende, aber sanfte Autorität aus. Viktoria lässt sich von ihr in das Restaurant Bloom lotsen, wo sie im Park unter alten Bäumen die letzten zwei Plätze ergattern. Sie versucht, den schweißüberströmten Mann neben sich zu ignorieren, der bei jedem Schluck Bier grunzt wie ein sich im Schlamm suhlendes Schwein.
»Wie in einem Backofen«, stöhnt Lisa und wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »So viel geschwitzt habe ich schon lange nicht mehr. Da ist ein kühles Bier genau das Richtige.«
»Sie haben recht«, poltert der Nachbar und grunzt erneut.
Die beiden Frauen schauen sich vielsagend an.
»Wie es aussieht, lässt die Abkühlung nicht mehr lange auf sich warten«, meint Lisa. »Schau mal, wie sich die Wolken zusammenballen. Zwei Stangen bitte«, ruft sie der Bedienung nach, die geschäftig von einem Tisch zum andern eilt.
»Und eine für mich«, grölt der Tischnachbar und wischt sich mit dem Handrücken den Bierschaum von den Lippen.
Viktoria ärgert sich über die Speicheltropfen, die es zu ihr hinüberweht. Noch eine Attacke und ich beginne zu schreien, schwört sie sich.
»Iris hat mir erzählt, dass du in der Nähe von Wald wohnst?«
»Ja, im Oberholz. Mein Haus liegt allerdings etwas außerhalb des Dorfes.« In der Ferne ertönt ein Donnerschlag. Sie zuckt zusammen. »Seit ich auf dem Land wohne, fürchte ich mich vor Gewittern. Du solltest hören, wie die Dachbalken krachen, wenn es stürmt.«
»Wie im alten Haus von Rocky Docky «, bemerkt Lisa lachend.
»Ja, genau. Den Text habe ich allerdings vergessen.«
» Dieses Haus ist halb zerfallen, und es kracht und stöhnt und weint. Dieses Haus ist noch viel älter als es scheint … «, singt Lisa vergnügt.
Der Nachbar singt dröhnend und kein bisschen falsch mit.
Viktoria verdreht die Augen. Ruhig bleiben, ermahnt sie sich. Ganz ruhig bleiben.
»Die letzte Strophe ist die schönste«, schwärmt Lisa. » Dieses Haus will ich bewohnen, komm vom Wandern ich zurück, denn das Haus ist voller Wunder und voll heimlicher Musik. Alle Sterne, die dort steigen, und die Schatten am Kamin, leiten zu den Träumen meiner Jugend hin «, singt sie munter drauflos.
»Wie romantisch.«
»In der Stadt kann man sich einbunkern und so tun, als ginge einen das Wetter nichts an.«
»Wohnst du schon lange in Winterthur?«
»Ja, schon sehr lange. Ich habe aber oben im Toggenburg ein Häuschen, das ganz schön abgelegen liegt. Ich mag es, die Natur hautnah zu erleben. Ich suche diese Erfahrung besonders dann, wenn mein Kopf mich glauben lässt, dass ich alles im Griff habe.«
»Ja, wenn man sich dem Wetter aussetzt, rücken die Proportionen ins rechte Licht«, erwidert Viktoria nachdenklich. »Ich frage mich, warum Iris mir nie von dir erzählt hat?«
»Ehrlich gesagt erstaunt mich das auch«, erwidert Lisa ohne zu zögern.
»Wusstest du von mir?«
»Oh ja.« Lisa lächelt. »Iris hat deine robuste, bodenständige Art sehr bewundert.«
»Ich verstehe das einfach nicht. Ich hätte mich doch für sie gefreut.«
»Es war sicher nicht ihre Absicht, dich zu kränken.«
Vielleicht nicht, denkt Viktoria, aber es tut trotzdem weh. Fasziniert betrachtet sie Lisas spiralförmige Ohrringe, die im Licht tanzen.
»Äußere Umstände konnten unsere Iris völlig aus der Bahn werfen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher