Mondmilchgubel Kriminalroman
Neugier und wählt Manuels Nummer. Als er abnimmt, hört sie Vogelgezwitscher und Wasserrauschen.
»Wo bist du?«
»Ich wollte soeben in mein Kanu steigen.«
»Bist du in der Rheinschlucht?«
»Ja.«
Manuel gehört eine kleine Wohnung in einem alten Walserhaus in Safien. Seine Mutter hat ihm das Appartement zu seinem 30. Geburtstag geschenkt. In der ursprünglichen Berglandschaft kann er Kraft tanken. Das Safiental ist eine alpine Brache. Jeder hat dort seinen Hof, sein Stück Land und seinen ganz eigenen Lebensrhythmus.
»Wie fühlst du dich, Manuel?«
»Wie ein Stück Treibholz. Ich fühle mich dem Tod näher als dem Leben. Und du?«
»Ich kann im Moment nicht sagen, um wen ich mehr trauere, um Lucien oder um Iris. Wie lange wirst du in Safien bleiben?«
»Eine Woche, zwei Wochen. Ich weiß es nicht. Ich habe alle Termine für die nächsten Tage abgesagt.«
Sie erzählt ihm die Geschichte von ihrem Sturz und den Briefen. Dass sie einen davon gelesen hat, verschweigt sie. »Wenn du mich das nächste Mal besuchst, werde ich dir die Schachtel mitgeben.« Sie zögert. »Manuel, ich hätte da eine Bitte …«
»Ja?«
»Hast du die Briefe aufbewahrt, die Iris dir geschrieben hat?«
»Es ist das Einzige, was mir geblieben ist.«
Vorsichtig formuliert sie ihr Anliegen. Ein Raubvogel kreischt in den Hörer.
»Wozu brauchst du die Briefe?«
»Ich möchte verhindern, dass der falsche Mann des Mordes an Iris angeklagt wird.«
»Ich möchte nicht, dass die Briefe in die Hände der Polizei gelangen. Ich würde es nicht ertragen, wenn sie noch mehr intime Fragen stellt.«
»Es geht mir nur um jene Passagen, wo Kuno, Edelmann oder Kari erwähnt wurden.«
»Iris schrieb nicht über ihren Mann.«
»Bitte, Manuel.«
»Ich werde darüber nachdenken.«
»In Ordnung. Bitte ruf mich an, wenn du über Iris sprechen möchtest. Ich bin auch nachts für dich da.«
»Im Moment möchte ich einfach nur meine Ruhe. Mir fehlt die Kraft, meinen Schmerz zu teilen.«
»Die Natur wird dir guttun.«
»Ja, wenn ich auf dem Wasser bin, kann ich mich gehen lassen.«
»Ciao, Manuel, pass auf dich auf.«
Wie gut Iris und Manuel doch zusammengepasst hätten, denkt sie bekümmert. Beide verstanden sich als Teil der Natur und glaubten an die Vision einer neuen, friedlichen Zivilisation, die eine Kommunikation zwischen Erde, Mensch und Kosmos ermöglicht.
Kapitel 15
Viktoria findet ihren Vater im Park des Pflegeheims. Seine Hände auf dem Knauf seines Stockes abgestützt, sitzt er mit Blick auf den Weiher regungslos auf einer Holzbank. Er esse kaum noch, hat ihr eine rothaarige Pflegefachfrau mitgeteilt. Wie sie sich zu ihm herunterbeugt und ihn mit einer sanften Umarmung begrüßt, fällt ihr auf, wie gebrechlich er geworden ist. Wie eine Feder, die darauf wartet, vom Wind weggeblasen zu werden. Sie setzt sich neben ihn, betrachtet seine eingefallenen, gelblich schimmernden Wangen. Seine Hand fühlt sich kalt an. Der Abschied, der sich von Mal zu Mal deutlicher ankündigt, treibt ihr die Tränen in die Augen.
»Wie geht es dir, Vater?«
»Es könnte besser sein, es könnte aber auch wesentlich schlechter sein.«
Sie schaut ihn besorgt an.
»Bitte verschone mich mit diesem Blick, Vicki. Du bist mein Kind, nicht meine Mutter«, rügt er sie. »Überhaupt, warum fragst du mich jedes Mal, wie es mir geht? Was meinst du, wie es einem alten Mann geht, der wie ein Kleinkind aufgenommen und gewaschen werden muss?« Als er ihr erschrockenes Gesicht sieht, lächelt er verschmitzt. »Du siehst heute auch nicht besonders gut aus.«
Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
Er tätschelt ihre Hand. »Möchtest du darüber sprechen? Liebeskummer ist es nicht, oder etwa doch?«
»Ich habe vorgestern eine Freundin verloren.« Sie erzählt …
Der alte Mann hustet. »Keine schöne Geschichte. Zu jung, um zu sterben.« Er wendet sich ab, schaut auf den Teich. »Schau die Enten, Vicki. Sie kümmern sich nur ums Fressen und um ihre Brut. Sie quaken und schnattern den ganzen lieben langen Tag, wie unsere Nachbarin damals. Wie hieß sie doch gleich?«
Sie sieht, wie seine Vergesslichkeit ihn quält.
»Jeden Tag geht mir ein Stück meines Lebens verloren. Eines Tages werde ich nicht mehr wissen, wer ich bin. Ich hoffe, dass ich dann endlich gehen darf.«
»Vreni Vögeli hieß sie.« Sie schwatzte tagein, tagaus herum, doch im Gegensatz zu Kunos Mutter war sie immer freundlich und hilfsbereit gewesen.
Er nickt nachdenklich. »Enten sind
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