Mondmilchgubel Kriminalroman
war für fremde Schwingungen sehr empfänglich. Ein Segen einerseits, andererseits aber auch eine emotionale Belastung.«
»Ja, sensible Menschen haben es in unserer Gesellschaft wirklich nicht einfach«, ergänzt Viktoria.
»Ich könnte mir gut vorstellen, dass es ihr in deiner Anwesenheit leichter fiel, ganz sich selbst zu sein. Bitte entschuldige, wenn ich das so offen sage, aber ich finde, dass von dir eine wohltuende Mütterlichkeit ausgeht.«
Sie lacht spöttisch. »Das liegt wohl an meiner üppigen Ausstattung.«
Der Nachbar, der andächtig mithört, nickt eifrig.
Viktoria sieht sich um. Weit und breit kein Tisch mit zwei freien Plätzen. »Iris war so anders als ich«, wendet sie sich erneut an Lisa. »Ich bin gesellig, sie war verschlossen. Sie verstand es, mich zum Nachdenken zu bringen. Und das will was heißen.« Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: »Sie fehlt mir so sehr.«
Ein warmes Lächeln überflutet Lisas Gesicht. »Mir auch.«
»Es ist schrecklich, sie auf diese Weise zu verlieren.«
Lisa seufzt. »Ja, du hast recht. Es tröstet mich zu glauben, dass der Tod nicht endgültig ist. Was nicht heißen will, dass ich nicht um sie trauere.«
»Verliert das menschliche Leben durch diese Betrachtungsweise nicht an Wichtigkeit?«
»Ganz im Gegenteil. Das Leben ist der wertvollste aller Schätze, schrieb ein japanischer Mönch einst an seine Schüler. Selbst die Schätze des gesamten Universums können nicht den Wert eines einzigen menschlichen Lebens erreichen.«
»Bist du Buddhistin?«
»Nein.«
Der Nachbar steht polternd auf und verabschiedet sich von den beiden Frauen.
»Gottseidank«, schnaubt Viktoria und legt ihre Handtasche auf den freien Stuhl.
Lisa schenkt ihr ein verschmitztes Lächeln. »Für mich ist mein Herz der beste Lehrer. Es liegt an mir, mein Leben sinnvoll und glücklich zu gestalten.«
Diese Frau meint, was sie sagt, geht es Viktoria durch den Kopf. »Trotzdem empfinden sich viele Menschen als Opfer einer ungerechten Welt, und ich kann es ihnen ehrlich gesagt nicht verübeln.«
»Das ist genau der springende Punkt«, ereifert sich Lisa. »Wir sind unglaublich schöpferische Wesen. Wir erleben, was wir mit unseren Gedanken erschaffen.«
»Und was ist mit all dem emotionalen Müll, mit dem ich mich tagtäglich herumschlagen muss?«
»Entsorge ihn.«
»Du machst mir vielleicht Hoffnung.«
»Du bist nicht einfach ein unbedeutend kleiner Fisch, sondern ein Teil des Ozeans.«
»Hört sich vielversprechend an.«
»Wenn wir uns unserer Macht bewusst sind, verschwindet das Gefühl, dem Leben bedingungslos ausgeliefert zu sein.«
»Wenn ich nachts in den Sternenhimmel schaue, habe ich eher das Gefühl, dass ich mich viel zu wichtig nehme. Außerdem haben wir gut reden. Uns fehlt es an nichts. Wir können uns sogar den Luxus leisten, hier im Park zu sitzen und über das Leben zu philosophieren. Aber was ist mit all den Menschen, die nicht einmal ein Dach über dem Kopf, geschweige denn genug zu essen haben?«
»Jeder Mensch und jedes Land hat seine eigenen Herausforderungen, und als solche möchte ich sie auf gar keinen Fall werten. Es ist jedoch eine Tatsache, dass ich hier und nicht irgendwo in Afrika oder Indien geboren bin. So sehe ich es als große Chance, meine Glaubenssätze und Verhaltensmuster immer wieder neu zu überprüfen.«
»Stimmt. Uns Menschen hier in der Schweiz stehen wirklich viele Türen offen.«
»Deshalb glaube ich, dass wir uns auf eine menschliche Lebensweise besinnen sollten.« Lisa nimmt einen tiefen Schluck Bier, bevor sie weiterfährt: »Es ist schade, wenn wir diese Chance nicht nutzen.«
»Ich muss gestehen, dass ich mich zu den Menschen zähle, die es vorziehen, müßig in den Tag hineinzuleben und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Natürlich habe ich als Journalistin die Dinge auch hinterfragt, mich aber meistens damit begnügt, auf Probleme hinzuweisen.«
»Jeder von uns ist fähig, selbst zu entscheiden, welche Dinge im Leben wichtig sind. Dazu müssen wir aber die Muster erkennen, die wir vor uns selbst verbergen.«
»Manchmal erscheint mir alles so sinnlos. Zum Glück funktionieren meine Verdrängungsmechanismen inzwischen ganz gut.«
»Verrätst du sie mir?«
»Da gibt es nicht viel zu sagen. Im schlimmsten Fall trinke ich mir einen an und nehme eine Schlaftablette. Wenn ich mich danach so richtig beschissen fühle, bekomme ich ein derart schlechtes Gewissen, dass ich alles nur Erdenkliche unternehme, um mein Leben wieder
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