Mondmilchgubel Kriminalroman
in eine sinnvolle Bahn zu lenken.«
»Solche Mechanismen sind wie Bumerange.«
»Ja, ich weiß. Aber sie helfen, den schlimmsten Moment zu überbrücken.«
»Tun sie das wirklich?«
»Muss ich dir darauf antworten?«
»Nein, musst du nicht.«
»Die Stühle sind besetzt«, erwidert Viktoria unfreundlich, als sich zwei schlaksige Männer, mit bis auf die Schamhaare heruntergerutschten Hosen, setzen wollen.
»Wir bleiben nur für ein Bier«, bellt der eine.
Viktoria nimmt ihre Tasche weg und schenkt den jungen Männern mit den In-Ear-Kopfhörern einen giftigen Blick. Sie gibt ihnen mit einer Geste zu verstehen, dass die Musik zu laut ist, und sagt zu Lisa: »Bitte entschuldige, ich möchte dir auf gar keinen Fall den Tag vermiesen, nur weil der meine bereits ruiniert ist. Seit Iris’ Tod läuft alles aus dem Ruder.«
Lisa nickt verständnisvoll.
»In meinem Freundeskreis kriselt es, wohin ich schaue. Viele meiner Bekannten sind wie ich die reinsten Verdrängungsmaschinen. Hinzu kommt, dass wir unseren Jungendbonus verspielt haben, was die Sache noch schlimmer macht.« Schweißperlen bilden sich auf ihrer Oberlippe. Sie tupft sie nervös mit einem Taschentuch ab. »Das Leben ist wirklich kein Schleck. Kaum habe ich ein Problem bewältigt, schiebt sich ein neues nach. Ehrlich gesagt glaube ich, dass wir Menschen keine andere Wahl haben, als unser Schicksal zu erdulden.«
»Ich glaube nicht, dass wir unserem Schicksal auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind«, entgegnet Lisa nachdenklich. »Mir scheint, dass ein wichtiger Grund für unsere Probleme der Glaube ist, dass wir Wesen voneinander getrennt sind. Hinzu kommt, dass unsere Überflussgesellschaft das Gefühl der Isolation noch verstärkt, indem sie den Individualismus fördert.«
Viktoria sinnt Lisas Worten nach. »Da ist was dran. Die Frage ist, habe ich Probleme, weil ich mich mutterseelenallein fühle oder habe ich Probleme, weil ich die Einsamkeit als unausweichliche Tatsache ansehe.«
»Was glaubst du?«
»Wir werden allein geboren, und wir müssen allein sterben. So einfach ist das.« Sie streicht sich ungeduldig eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht.
»Glaubst du nicht auch, dass ein Mensch, der sich mit allen anderen Wesen verbunden fühlt, leichter kommt und leichter geht?«
»Möglich.«
»Um noch einmal auf die Ursache unserer Probleme zurückzukommen. Was, wenn wir uns tatsächlich vor Abermillionen von Jahren von der Urquelle getrennt haben?«
»Aber warum sollten wir so blöd sein? Ist es nicht so, dass an der Quelle der Durst am schnellsten gestillt wird?«
»Vielleicht wollte unsere Seele neue Erfahrungen sammeln?«
»Klingt durchaus plausibel, sofern es so etwas wie eine unsterbliche Seele gibt.«
Lisa nickt bedächtig.
»In diesem Fall haben wir uns aber eine Menge Probleme eingehandelt.«
»Ja, das haben wir.«
»Und jetzt bleibt uns nichts anderes übrig, als die Folgen dieses Fehlentscheids auszubaden.«
»Warte, es kommt noch besser. Durch die Trennung erschuf unser Geist die Polarität und damit einen Dauerzustand des Sich-getrennt-Fühlens.«
»Sag mal, willst du mir den Abend noch ganz verderben?«
»Ganz im Gegenteil, ich möchte dir Mut machen«, erwidert Lisa verschmitzt.
»Mut machen nennst du das?«
»Wo ist deiner Meinung nach die Polarität am offensichtlichsten?«, fährt Lisa unbeirrt fort.
»Ich würde sagen: in der Materie.«
»Genau. Wahrscheinlich war die Verkörperung eine logische Folge der Trennung.«
»Und jetzt muss ich mich tagtäglich mit einem übergewichtigen Körper abrackern, dem die Schwerkraft immer mehr zu schaffen macht. Ganz zu schweigen von allen anderen körperlichen Strapazen.«
»Ich glaube, in der Verkörperung liegt nicht das Hauptproblem.«
»Wo dann?«
»Wie hast du dich gefühlt, als du damals von deinen Eltern fortgegangen bist?«
Viktoria runzelt die Stirn. »Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen.«
»Versuche dir nun vorzustellen, wie du dich gefühlt haben magst, als du dich von der Urquelle getrennt hast.«
»Nein, das werde ich mir ganz sicher nicht antun.«
»Warte, Viktoria, ich bin noch nicht ganz fertig. Könnte diese Trennung nicht eine gefährliche Emotion ins Leben gerufen haben?«
»Ich ahne, worauf du hinauswillst. Ich habe mich auch schuldig gefühlt, als ich meine Eltern verlassen habe, obwohl ich sie unbedingt verlassen wollte.«
»Deshalb glaube ich, dass all unsere Ängste und Zweifel letztendlich die Folgen dieses einen großen
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