Mondtaenzerin
es wohl noch aushalten würde. Ihr Rock wirbelte hoch, man sah ihre dünnen Schenkel voller Mückenstiche und ihren Schlüpfer, weiß und mit rosa Blümchen bedruckt. Eine Lehrerin lief herbei, packte sie am Arm und zerrte die sich heftig Sträubende zum Schulleiter, der die Stirn in strenge Falten legte. Viviane, die immer ehrlich war, gab mürrisch zu, dass sie zwei Stunden damit verbracht hatte, den Saum zu kürzen. Der knielange Wollrock sei ihr zu warm, und – nein – Strümpfe wolle sie auch nicht tragen, die kratzten an den Beinen. Der Schulleiter bekam einen roten Kopf. Er brummte Viviane einen Verweis auf, sie musste den Saum wieder auslassen und mit Kniestrümpfen in die Schule kommen.
Heute lebt Viviane in Japan. Miranda will clean werden, macht Yoga bei Sonnenaufgang und ernährt sich vegan. Alexis wurde in der Heimat begraben. Die Pension verkam zur Müllhalde, bevor die Bagger anrückten. Jetzt entsteht dort ein Apartmenthaus mit eigenem Resort und Blick auf die Steilküste
Tat il Hnejja. Eine Luxusidylle. Die Unternehmer respektieren die Landschaft, planen Naturschutz gleich mit ein. Sie schlagen sich gerissen und erfolgreich auf die Seite der Sieger, zu denen Peter und ich offenbar jetzt auch gehören, obwohl dadurch kein Euro mehr auf unser Konto springt. Unser Sieg ist lediglich ein moralischer. Eine Genugtuung allemal, wir könnten eigentlich zufrieden sein.
5. Kapitel
D ie Kindheit, diese mysteriöse Landschaft der Veränderungen, erfüllt uns mit einem Sturm der Unruhe. Unser Verstand wird von einer rudimentären Logik geleitet, die dem Primitiven noch sehr nahe ist. An dem Ort, an dem Giovanni und ich die Ameisen retteten, schien die Vergangenheit noch in der Hitze ihres Mittags zu brüten. Das Geräusch der Trockenheit war in der Luft, ein heimliches Knistern, etwas wie ein Flüstern der kreisförmigen Ruinen. In der Ferne leuchtete still das Meer, und nicht ein einziges Schiff war zu sehen. Wir fügten uns in diese Landschaft ein, die stillzustehen schien, sprachen leise zueinander, mit der irrationalen Ernsthaftigkeit jener Kreaturen, die einst den ersten Feuerfunken entfachten. Wir sprachen dabei halblaut, und unsere Stimmen waren so körper- und schwerelos wie die Luft.
»Da liegen welche, die tot sind«, sagte Giovanni.
»Wir können sie nicht mehr retten.«
»Ob es wohl schlimm ist, tot zu sein?«
Ich umklammerte meine Knie, kam mir unpersönlich und klug vor.
»Ich glaube, da fühlt man nichts mehr. Meine Mutter sagt, du bist ja jede Nacht für ein paar Stunden tot.«
»Aber wir träumen doch«, sagte Giovanni. »Tote können das nicht.«
»Vielleicht doch?«
»Das wissen wir aber nicht.«
»Ich kenne einen Ort«, sagte ich, »wo ganz viele Tote liegen.«
»Auf dem Friedhof?«
»Nein, in Löchern. Man sieht nur die Knochen.«
»Knochen träumen nicht.« Giovanni sagte es in entschiedenem Tonfall. »Das Gehirn ist ja weg.«
»Knochen sind lebendig, auch wenn sie tot sind.«
»Wer sagt das?«
»Meine Freundin Vivi.«
»Hat sie keine Angst?«
»Nein, sie sagt, die in den Löchern sind nicht böse.«
»Woher weiß sie das?«
»Ach, Vivi fühlt solche Dinge.«
Giovanni zog die Stirn in Falten.
»Kann ich diese Toten auch mal sehen?«
Ich blickte auf seine Fingernägel, die wegen der abgebrochenen Stellen wie ausgezackt aussahen. Armeleutekinder haben schmutzige Nägel. Giovanni nicht. In mir bekämpften sich widerstreitende Empfindungen. Die Sache, von der ich gesprochen hatte, war unser Geheimnis. Aber ich spürte in mir ein mysteriöses und unbezähmbares Verlangen, es mit Giovanni zu teilen.
Schließlich sagte ich:
»Ich weiß nicht, ob du dabei sein darfst. Ich muss zuerst Vivi und Peter fragen.« Giovanni sah mich immerfort mit weit offenen, dunklen Augen an, deren Ausdruck zwischen funkelnd und verschwommen wechselte. Er blickte manchmal scharf, manchmal ängstlich. Seit dem Tag seiner Geburt, und zuvor schon, als die Geburt seiner Mutter ihm einen Platz auf der Erde gesichert hatte, trug er Erbanlagen in sich, die widersprüchlicher nicht hätten sein können. Eine unsichtbare, namenlose Schranke war’s, die ihn zum Ausgestoßenen machte, als ob er nur Impulse vernahm, die ihm aus einer fremden Ebene zugeleitet wurden. Einen Austausch gab es nicht, alles erreichte ihn durch den Filter des sozialen Unterschieds. Die Gesellschaft stieß ihn an den Rand. Der Lebensraum, dem er
angehörte, hatte ihm genügen sollen. Er lehnte sich nicht dagegen auf – noch
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