Mondtaenzerin
gebügelt, seine Schuhe blank geputzt. Seine Mutter sorgte dafür, dass er immer tadellos gekleidet war. Sein Haar war akkurat gekämmt. Mir gestand er, dass er die Uniform nicht mochte, dass ihm die Schuhe an den Füßen schmerzten. Gleich nach dem Unterricht zog er sie immer aus, sobald er aus der Sichtweite der anderen war. Er band die Schuhe an den Schnürsenkeln zusammen und warf sie über den Arm, bevor er barfuß und befreit losrannte.
Sein Onkel wollte einen Priester aus ihm machen.
4. Kapitel
D ie Geschichte, die ich erzählen will, ist auch Vivianes und Peters Geschichte. Die Geschichte von Giovanni und mir steht auf einem anderen Blatt. Und trotzdem ist es die gleiche Geschichte, die lange davor bereits begonnen hatte. Und es ist eine ganz besondere Geschichte, in der alles zutiefst miteinander verwoben war, in der es nichts gab, das uns nicht völlig natürlich schien. Vivianes Platz in dieser Geschichte war strategischer Natur, sie war das entscheidende Verbindungsglied zwischen Peter, Giovanni und mir. Tatsächlich war es Viviane, die unser Verwobensein bewirkte und festigte. Sie trug in sich eine größere Überlagerung von Erfahrungen, sie kannte ihre Rolle, so absonderlich und unbegreiflich sie auch sein mochte, und sie spielte diese Rolle gut. Später erzählte sie mir, sie habe dabei stets das Gefühl gehabt, Buch zu führen. Diese Sachlichkeit war typisch für sie.
Vivianes Mutter hieß Miranda Ogier. Sie war Engländerin und kam aus einer sogenannten »besseren Familie«, von der sie aus obskuren Gründen nichts wissen wollte. Der dreizehn Jahre jüngere Vater Alexis stammte aus Thessaloniki. Ihr hybrides Erbe machte es wohl, dass Viviane, sobald alle Bezugs- und Verbindungspunkte eingeklinkt waren, die Erste war, die die Geschichte verstand. Sie stimmte ihre scharfen Sinne darauf ein, konnte sich das unsichtbare Werk dahinter vorstellen, für sie war die Sprache der Zeichen individuell und deutlich. Das Geheimnis offenbarte seine dunkle Seite, das Innere des Malstroms, den unbekannten Kern. Viviane beobachtete
das alles mit aufmerksamen verzückten Augen. Sie erklärte nie etwas, weil sie ja nicht wusste, wie sie es hätte erklären können. Sie konnte die Sache auch nicht zum Stillstand bringen, ebenso wenig, wie sie sich dem Lauf der Tage, der Jahreszeiten, der Sonne und des Mondes widersetzen konnte.
Aus unserer Sicht der Dinge war es ganz selbstverständlich, dass Viviane im Mittelpunkt stand. Wenn ein Kind besondere Fähigkeiten hat, glaubt es, dass alle darüber Bescheid wissen. Das Kind bleibt unbefangen, bewegt sich in einer Art ewiger Feststimmung. Unmöglich zu erkennen, was gerade in ihm vorgeht. Das Kind weiß es ja selbst nicht.
Vivi war kleingewachsen, ungepflegt, schüchtern und unverschämt, mit einer Zahnlücke, die ihrem Lächeln etwas Freches und Feenhaftes gab. Sie trug ihr feines Haar im Halbrund geschnitten, wie Fransen fiel es ihr auf die Augen, die groß und leicht vorstehend waren, richtige Kulleraugen, mit langen Wimpern. Sie war witzig, aufgeweckt und ein Ausbund von Fröhlichkeit. Es kam aber vor, dass sie sich anmaßend und stockdumm zeigte; man konnte sie auch nicht zum Gehorsam zwingen, da zersprang sie wie Quecksilber.
Sie hatte eigentümliche Veranlagungen. Wir staunten, wenn sie sich langsam und herausfordernd Dornen in den Arm stach und sich über unsere betroffenen Gesichter amüsierte. Entfernte sie die Dornen, zeigten sich winzige blaue Flecken, stecknadelgroß, aber es kam nie Blut. »Es tut überhaupt nicht weh!«, sagte sie gleichgültig. Sie sah oft Dinge an, ohne sie zu sehen, und manchmal sah sie auch etwas, als könnte sie nichts anderes sehen oder hören oder fühlen. Dann war ihr Gesicht starr und voller ungläubigem Erstaunen. Sie gab keine Antwort, wenn wir mit ihr sprachen, es war, als ob sie mit offenen Augen schlief und wir sie wachrütteln mussten. Auch hatte sie eine übertriebene Beweglichkeit der Gelenke, konnte ein Bein mühelos über ihre Schulter werfen, als sei es aus Gummi. Oft lag sie auf dem Bauch, die Beine angewinkelt und weit auseinandergespreizt,
in einer Pose, die sich nur mit der eines Frosches vergleichen ließ. Kam sie in überdrehte Stimmung, konnte sie Stimmen nachmachen, wie eine erwachsene Frau sprechen, ja sogar wie ein Mann. Sie pfiff wie ein Vogel, ahmte auch Tiere nach, zauberte aus ihrem Kehlkopf alle möglichen Grunz- und Zischlaute hervor. Sie verzog keine Miene dabei, was bei uns Lachanfälle ohne Ende
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