Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
gekommen.
Zumindest bei dieser letzten Aussage hätte ihr das Wort im Hals stecken bleiben müssen. Dass Prügel bei uns an der Tagesordnung waren, wusste die ganze Verwandtschaft genauso gut wie die Nachbarn, auch meine Oma.
Ich bin überzeugt, dass Oma Berta zumindest im Unterbewusstsein starke Schuldgefühle wegen der Leiden hatte, die ihrer Tochter zugefügt worden waren. Gefühle liefen bei ihr immer über Geschenke ab. Ob sie nun kochte oder strickte oder Geld schenkte – solche Zuwendungen waren immer die einzige Möglichkeit für sie, Zuneigung zu zeigen. Daher bin ich sicher, dass meine Oma vor allem deshalb auf so vieles verzichtete, weil sie versuchte, an ihren Töchtern etwas gutzumachen. Nach meinem Dafürhalten quälte sie sich zeitlebens ab, die seelischen und körperlichen Schäden, die durch den väterlichen Missbrauch und ihr eigenes stillschweigendes, vielleicht hilfloses Dulden oder Verleugnen entstanden waren, irgendwie auszugleichen. Wahrscheinlich war es ein Kampf, in den sie ihre ganze Kraft investierte.
Kein Wunder, dass es für sie wie ein Weltuntergang war, als meine Mutter schwanger wurde. »Hätten wir dich mit 14 von der Schule genommen und ans Fließband geschickt, wie andere das mit ihren Gören machen, hättest du uns wenigstens ein paar Kröten heimgebracht, statt bloß Geld zu kosten für nichts und wieder nichts!«, schrie sie und schüttelte meine Mutter durch, dass dieser Hören und Sehen verging.
Eine vornehme Frau ist Oma Berta wahrlich nicht. Wenn sie wütend ist, kennt sie kein Pardon. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie getobt und lautstark bedauert hat, meiner Mutter nicht oft genug den Hintern versohlt zu haben. Von solchen Erziehungsmitteln hält sie bis heute recht viel.
Auch ihr Mann brach unter der Neuigkeit, bald ein Enkelkind zu bekommen, zusammen – aber aus ganz anderen Gründen. Er war eifersüchtig. Er fühlte sich von der eigenen Tochter betrogen, hintergangen – was weiß ich. Aber vermutlich hatte er längst vergessen, dass Lena seine Tochter war. Wahrscheinlich kam er sich eher wie der Besitzer eines Harems vor, dessen Lieblingsfrau fremdgegangen war.
In einem Buch von Nathalie Schweighoffer (»Ich war zwölf ... Die erschütternde Geschichte eines sexuellen Missbrauchs«) habe ich gelesen, dass der Vater, der seine Tochter missbrauchte, froh war, als sie einen Freund hatte, weil er so über jemanden verfügte, dem er eine mögliche Schwangerschaft in die Schuhe schieben konnte. Möglicherweise hatte mein Opa ja ähnliche Erwartungen an die Beziehung meiner Mutter zu ihrem damaligen Freund. Oder vielleicht hatte er – wie Nathalie Schweighoffers Vater – gehofft, der fremde Mann werde meine Mutter erlebnisfähiger in Sachen Sex machen, sodass er selbst mit ihr mehr Vergnügen hätte als bisher.
Mein Opa starb, als ich noch ein kleines Kind war. Ich hatte nie Gelegenheit, mit ihm über sein Verhalten zu reden. Doch wie ich mich kenne, hätte ich ihn auch dann nicht zur Rede gestellt, wenn er nicht so früh gestorben wäre.
Meine Mutter deckte nur ein einziges Mal mir gegenüber die Karten auf. Nur dieses eine Mal gestand sie mir, dass ihr Vater sie ebenso missbraucht hätte wie mein Vater später mich. Einzelheiten erzählte sie mir damals nicht. Die kannte ich ja aber vielleicht sowieso besser als sie selbst. Ich fragte sie auch nicht danach. Im Grunde wollte ich gar nichts über den Opa wissen. Ich wollte ihn vergessen und hatte es getan.
Meine Mutter erzählte mir nie, wie sie die Monate bis zur Entbindung überstand. Ich weiß nicht, ob sie eine andere Ausbildung begann oder auf Grund ihrer Vorbildung irgendeine Beschäftigung bekam. Ich weiß nur, dass sie später, als wir Kinder alle längst auf der Welt waren, als Bürokraft Geld verdiente und sehr gut, fehlerfrei und schnell an der Schreibmaschine arbeiten konnte.
Die Einstellung meiner Großeltern gegenüber der missratenen Tochter änderte sich nach Stefans Geburt nicht. Noch immer hatte meine Mutter Hausverbot.
Das Baby aber war merkwürdigerweise mehr oder weniger willkommen. Warum, weiß ich nicht mit letzter Sicherheit zu sagen. Allerdings wurde ich eine Zeit lang – vor allem, seit ich von meiner Mutter wusste, was ihr Vater ihr angetan hatte – den Verdacht nicht los, dass Stefan in Wirklichkeit das Kind meines Opas sei und deshalb von ihm akzeptiert wurde. Auf Fotos, die meinen Opa als Jungen zeigen, ist die Ähnlichkeit mit Stefan nicht zu übersehen. Außerdem hingen sie
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