Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
Kleidergröße 56, mindestens. In ihrer Jugend aber war sie zierlich und schlank, mit einem dunklen Lockenkopf.
Zu Hause waren sie fünf Kinder: Meine Mutter hatte drei Schwestern und einen Bruder. Lena war die zweitjüngste Tochter. Gemeinsam mit den Eltern wohnten sie in einem Mehrfamilienhaus in der Innenstadt von Essen zur Miete.
Meine Oma Berta tat alles für ihre Familie. Bei ihr ging Liebe zuallererst durch den Magen. Gegen Kummer schnitt sie ein dickes Stück Kuchen herunter. Pudding, Eis, Schokolade taten es zur Not auch. Wenn wir oder die Familie eines ihrer anderen Kinder zu Besuch kamen, bog sich der Tisch vor Köstlichkeiten. Und zum Geburtstag oder den übrigen großen Festen im Jahr schenkte meine Oma am liebsten Geld für ein schönes Essen zu zweit. Noch als alte Frau kratzte sie von ihrer geringen Rente jeden Pfennig zusammen, damit sie jedem Kind einmal im Jahr fünfhundert Mark schenken konnte.
Sich selbst aber gönnte sie gar nichts. Jeden Pfennig drehte sie dreimal um, ehe sie ihn ausgab. Urlaub kannte sie nicht. Und ein Auto wäre in ihren Augen unerhörter Luxus gewesen. Noch jetzt klingt es mir in den Ohren, wie zornig meine Oma wurde, als ich sie einmal darauf ansprach. »Was brauchen wir ein Auto?«, wetterte sie. »Schließlich gibt’s die Straßenbahn. Und wo wir nicht hinkommen, da bleiben wir weg.«
Stundenlang konnte Oma Berta nähen, sticken, häkeln oder stricken, damit ihre Kinder öfter einmal etwas Neues anzuziehen hatten. Oft war sie bis in die Nacht hinein damit beschäftigt. Vor allem die Töchter sollten hübsch anzusehen sein und fremden Mädchen nicht nachstehen.
Was im Haushalt gespart werden konnte, legte meine Oma für ihre Kinder beiseite. Diese sollten eine gute Ausbildung erhalten, und das kostete Geld. Sie war bereit, sich aufzureiben und aufzuopfern, damit es den Mädchen einmal besser gehen solle als ihr selbst. Oma Berta war stolz, dass ihre Mädchen das Gymnasium besuchen konnten. »Lernt, lernt, lernt!«, spornte sie sie immer wieder an. »Was ihr im Kopf habt, kann euch keiner nehmen. Und was ihr alleine könnt, dafür braucht ihr keinen Mann.«
Als sich herausstellte, wie musikalisch Lena war, erhielt sie nicht nur Klavierunterricht, sondern auch ein eigenes Klavier. Es war ein Bechstein. Wenn meine Mutter später davon sprach, machte sie ein Gesicht wie in der Kirche, und dann weinte sie manchmal im Schlafzimmer, aber heimlich, denn Weinen war uns bei Strafe verboten.
Ich selbst habe nie erlebt, wie meine Mutter Klavier gespielt hat. Auch ihren Bechstein habe ich nie gesehen. Das Klavier war verkauft oder verschenkt, bevor ich geboren wurde. Das schien ein völlig abgeschlossenes Kapitel ihres Lebens zu sein. Sie mochte nicht einmal mehr zuhören, wenn einer im Fernsehen Klavier spielte.
Nur wenn sie »ihre fünf Minuten« hatte, brach alles aus ihr heraus. Dann ging der Vorwurf wie Donnerwetter und Höllenfeuer über uns nieder, dass sie alles nur unseretwegen hatte aufgeben müssen und wir Kinder Schuld an ihrem Elend hätten. Vor allem Stefan, mein ältester Bruder, genauer mein Halbbruder, hatte sehr darunter zu leiden.
Damals, als die junge Lena noch eine vielversprechende Klavierschülerin war, wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, dass das Geld für die Musikausbildung zum Fenster hinausgepulvert sein könnte. In ihren Träumen sah meine Mutter sich schon als eine berühmte Konzertpianistin.
Meine Oma unterstützte sie in diesen Ambitionen, indem sie ihr alles abnahm, was nicht mit Schule und Musik zusammenhing. Aufräumen, Putzen, Kochen, der ganze Haushaltskram blieb meiner Mutter erspart. Sie war nur dazu da, ihrem Vater zu gefallen und zu lernen. Hausarbeit hätte ja womöglich den zarten Händen geschadet.
Oma Berta beklagte sich kaum einmal, dass alle Arbeit an ihr hängen blieb. Sie war das Aschenputtel, aber es schien ihr nichts auszumachen. Ich glaube, für sie war es das Höchste, mit anzusehen, wie ihre Töchter etwas Besseres wurden und die Chance erhielten, ein schöneres Leben zu führen als sie selbst.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob meine Mutter tatsächlich studiert hat, nehme es aber an. Als junges Mädchen jedenfalls war sie sehr ehrgeizig. Sie besuchte das Gymnasium, lernte Englisch und Französisch.
Als ich mich später selbst mit Fremdsprachen herumschlug, hagelte es von meiner Mutter Kopfnüsse, wenn ich Fehler machte. »Du bist ja wohl total doof!«, schrie sie oft. »Das muss doch so und so heißen! Das weißt
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