Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
nicht«, sagte sie. »Du darfst ihm so etwas nicht antun. Ich helfe dir ja. Aber allein schaffe ich es nicht. Du musst ihm selbst sagen, dass er nicht mehr kommen soll.«
Dann die Anrufe meines Vaters. »Ich will, dass du mich verwöhnst. Was kostet eine Nacht mit dir?«
War ich denn niemals mehr vor ihm sicher?
In äußerster Verzweiflung, voll Angst um meine Sicherheit und um mein Leben und in dem Gefühl dass sich alle anderen Möglichkeiten erschöpft hatten, zeigte ich meinen Vater wegen sexuellen Missbrauchs an.
Gleichzeitig beschloss ich, meine Geschichte öffentlich zu machen, weil Öffentlichkeit das ist, was mein Vater immer am meisten gefürchtet hat. Es war nicht Rachsucht, die mich dazu bewog. Es war weit eher die Hoffnung, ihm damit Angst einzujagen, so viel und so große Angst, dass er mich endlich in Ruhe lassen, mir endlich aus dem Weg gehen würde. Ich wollte leben. War das zu viel verlangt?
Als mein Brieffreund von der Kontaktstelle Fernsehen mich darauf ansprach, dass für einen Film Opfer sexuellen Missbrauchs gesucht würden, erklärte ich mich spontan mit einer Aussage vor laufender Kamera einverstanden. Ich hatte nicht einmal Bedenken, mein Gesicht offen zu zeigen. Mein Vater sollte den Schreck seines Lebens bekommen. Er sollte wissen, dass mit mir nicht mehr zu spaßen war. Er sollte die Finger von mir lassen.
Dann aber, als die ersten Aufnahmen vorüber waren, überkam mich doch Angst. Wie sollte ich damit leben? Der zuständige Regisseur der Sendung, die später im zdf lief, gab mir die Anschrift und Telefonnummer seiner Koregisseurin, mit der ich über meine Zweifel sprechen sollte. So lernte ich Karin Jäckel kennen. Wir haben uns seither nicht mehr aus den Augen verloren und sind Freundinnen geworden.
Den Prozess gegen meinen Vater erlebte sie von Anfang an mit. Über vier Jahre schleppte er sich hin. Verhöre, oft stundenlang, nur von einem Schokoladenriegel unterbrochen, Gutachter, die meine Glaubwürdigkeit und geistige Gesundheit testeten, erneute Verhöre, Fragen nach jedem Detail. Meine Stimme, die sich immer wieder verabschiedete, die Vernichtungsgedanken, das schlechte Gewissen, die Angst, meinem Vater im Gerichtssaal wiederbegegnen zu müssen. Woher nahm ich die Kraft, dies alles durchzustehen? Viele Faktoren kamen zusammen, immer aber hielt mich der Gedanke aufrecht, es für Georg zu tun.
Wenn ich zusammenzubrechen und mich aus diesem Leben und damit auch aus dem Prozess fortzustehlen drohte, fingen Therapien, wechselnde Wohngruppen, Kliniken, Freunde und Freundinnen mich auf. Ich war nicht allein, jedenfalls nicht äußerlich.
Doch in der Tiefe meiner Seele sitzt eine Einsamkeit, die mir heute noch keiner nehmen kann. Da sitze ich und bin ein mutterseelenallein gelassenes, ungeliebtes, verstoßenes und für wertlos befundenes Kind. Keine Freundschaft kann dieses unglückliche Kind in mir erreichen und trösten. Nur Liebe könnte es. Aber wird dieses Kind in mir jemals wieder bereit und imstande sein, Liebe anzunehmen und zu vertrauen?
Einmal, noch bevor ich vor meinem Vater nach Mannheim fliehen musste, hatte ich für kurze Zeit das Gefühl, mich auf eine echte Beziehung einlassen zu können. Ich hatte eine Frau kennen gelernt, die mir Nähe schenkte und mich respektierte. Es war wunderschön, abends nach der Arbeit mit Freude und Ungeduld erwartet zu werden, zu einem anderen Menschen zu gehören, ihn zu lieben und wiedergeliebt zu werden. Ich bekam eine Ahnung davon, wie es sein könnte, wenn ich mich öffne und für einen anderen Menschen bereit bin.
Aber ich habe auch gelernt, dass selbst ein Mensch, der mich gern hat oder sogar liebt, mit meiner Vergangenheit und deren bis heute anhaltenden Folgen Probleme hat. Davor habe ich Angst. Denn nichts wäre heute für mich schlimmer, als einen Menschen zu verlieren, dem ich mich anvertraut habe. Deshalb will ich es nicht ausprobieren. Obwohl mir im Kopf längst schon klar ist, dass ich es wagen muss, wenn ich nicht das einsame Kind bleiben will.
Werde ich es wagen? Ich weiß es nicht. Aber ich habe Hoffnung.
Am 3. Februar 1992 wurde mein Vater »auf seine Kosten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und Beischlaf zwischen Verwandten zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt«. So steht es im Urteil. Ich habe es oft schon gelesen. Es gibt mir Kraft, weil es der Beweis dafür ist, dass die Welt mir glaubt und nicht meinem Vater.
Die am 24. Juni
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