Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
abspielten und nach dem Verdikt meines Vaters für andere tabu zu sein hatten.
Als meine Eltern die Antwortbriefe lasen und meinen Briefpartner am Telefon gegen mich einzunehmen versuchten, erlebte ich zum ersten Mal im Leben, dass ihre Macht zur Ohnmacht wurde. Mein Briefpartner hielt zu mir! Er glaubte mir nicht nur, er munterte mich auch auf, mich zur Wehr zu setzen. Ganz offen ergriff er Partei für mich.
Zum allerersten Mal kam mir der Gedanke, dass ich ja vielleicht doch etwas wert sein könne, dass mich ja vielleicht wirklich ein Mensch gern haben könne.
Einige Zeit später kam ich wegen Stimmversagens in ärztliche Behandlung. Heute weiß ich, dass meine Stimme immer dann versagt, wenn ich über Erinnerungen sprechen will oder sprechen soll, die mir verboten sind. In weniger einschneidenden Fällen oder wenn ich seelisch gefestigt bin, verwandelt sich meine Stimme nur in ein Flüstern oder ein heiseres Krächzen, das von einem bellenden Husten unterbrochen wird, welcher an eine schwere Bronchitis erinnert. Im schlimmsten Fall verweigert sie mir vollkommen den Dienst. Damals handelte es sich um einen schweren Fall; ich verstummte für Monate. Ohne die sprachtherapeutische Behandlung bei einer Logopädin hätte ich meine Stimme vermutlich nie wiedererhalten.
Meine Eltern, die mich schließlich zum Arzt bringen mussten, erklärten diesem wortreich, dass der Stimmverlust eine Folge des Unfalltodes meines Bruders sei, den ich nicht verkraften könne. So gelangte ich erstmals in eine Psychotherapie.
Das Gespräch mit meinem ersten Therapeuten ließ sich schwer an. Ich durfte ja nicht reden. Aber ich sollte reden, und irgendwie wollte ich es ja mittlerweile auch. Die Erfahrung mit meinem Briefpartner von der Kontaktstelle Fernsehen brachte mich endlich auf die Idee, wie ich reden könne, ohne zu sprechen: Ich begann zu schreiben. Hunderte von eng beschriebenen Seiten füllten im Laufe der Zeit mehrere Ordner. Meine Kindheit, meine Jugend, mein Leben ist in ihnen aufgeschrieben, abgeheftet, zu den Akten gelegt. Diese Aufzeichnungen sind fast nichts, gemessen an dem, was ich inzwischen unter Kämpfen mündlich preisgegeben habe.
Zwei Jahre lang schrieb ich meinem Therapeuten kein Wort über den sexuellen Missbrauch durch meinen Vater. Aber immer öfter ließ ich anklingen, dass es da etwas gegeben habe und immer noch gebe. Da der Therapeut merkte, dass ich über bestimmte Dinge nicht reden konnte, begann er, auf der Basis dessen, was er aus meinen Briefen wusste, Fragen zu formulieren, die ich nur mit ja oder nein zu beantworten hatte.
Da ich stark selbstmordgefährdet war, schickte man mich erstmals in eine psychosomatische Klinik. In Bad Dürkheim nahm man weniger Rücksicht auf meine Angst zu reden, als ich es von meinem Therapeuten her gewöhnt war. Die bohrenden Fragen brachten mich vollkommen durcheinander und näher an den Rand des Todes als je zuvor. In meiner Bedrängnis fing ich aber schließlich tatsächlich zu reden an. Ich erzählte von Boris. Dieses Geheimnis preiszugeben, erschien mir unbedenklicher, als einzugestehen, was mir seitens meiner Eltern und vor allem meines Vaters widerfahren war.
Man lud Boris zu einem Gesprächstermin nach Bad Dürkheim ein. Er erschien tatsächlich. Von den Ärzten zur Rede gestellt, leugnete er zunächst jede sexuelle Beziehung zu mir, gab dann aber doch zu, mich missbraucht und vergewaltigt zu haben. Dieses Eingeständnis reute ihn jedoch schon sehr bald. In einem Brief, den er mir später einmal schrieb, klagte er mich heftig an, ihn damals zu einer Lüge verleitet zu haben. Nie habe er mich vergewaltigt. Er habe dies einzig und allein zugegeben, um mich zu schützen und vor einer Einweisung in die geschlossene Psychiatrie zu bewahren. Erst vor Gericht gab er auf eingehendes Befragen unsere sexuelle Beziehung zum zweiten Mal zu.
Ich weiß nicht, ob es gut und richtig war, dass ich die Behandlung in Bad Dürkheim auf eigene Verantwortung abbrach. Damals hatte ich jedoch die innere Gewissheit, es dort nicht länger aushalten zu können und vor den immer massiver werdenden Fragen nach meiner Vergangenheit fliehen zu müssen.
Mein erster Therapeut nahm die Therapie wieder auf. Wieder schrieb ich Brief um Brief. Zwei Jahre nach dem ersten Kontakt zu ihm war ich endlich imstande, über meinen Vater und mich zu reden.
Endlich war ich innerlich auch so weit, von zu Hause ausziehen zu können. Nach kurzer Zeit in einem Kinderheim fand ich eine eigene Wohnung und
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