Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
weglaufen, weil ich so schmutzig war. Dann wäre Papa traurig und böse auf mich, weil er nicht wollte, dass sie weglief. Es war ein Geheimnis. Ein schlimmes, schlechtes, schmutziges Geheimnis.
Selbst wenn ich als kleines Mädchen jemanden gehabt hätte, dem ich mich hätte mitteilen können – ich hätte nicht über die Worte verfügt, um meine Gefühle zu beschreiben. Wer mich hätte verstehen wollen, hätte mich beobachten müssen. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass ich anfing, mir immerzu die Hände zu waschen. Ständig hatte ich den Eindruck, klebrige Finger zu haben.
Nachts schlich ich mich heimlich ins Badezimmer, den einzigen Ort im Haus, den wir Kinder, ohne um Erlaubnis zu bitten, jederzeit aufsuchen durften. Dort kauerte ich oft stundenlang und biss mir die Fingerkuppen blutig, bis der Schmerz die Traumbilder aus meinem Kopf vertrieb.
Wenn meine Mutter mich ansah, wich ich ihrem Blick aus. Sie hatte einmal gesagt: »Ich sehe, wenn du lügst. Schlimme Gedanken stehen in den Augen geschrieben.«
Stand dort auch, dass ich schmutzig war?
Das Geheimnis mit meinem Vater erdrückte mich. Es fiel mir so schwer, das zu verschweigen, woran ich Tag und Nacht denken musste.
Trotz meiner Angst vor Strafe versuchte ich noch einmal, in meiner kindlichen Hilflosigkeit einen anderen Menschen auf mein Geheimnis zu stoßen – diesmal Oma Grete. Eines Tages, als Boris und ich bei ihr zu Besuch waren, hatte sich mein Bruder im Spiel vergessen und seine Hose nass gemacht. »Oma«, sagte ich, »mein Papa hat auch einen Pimmel – aber einen viel größeren als Boris.«
»Sicher«, erwiderte meine Oma. »Er ist ja auch schon ein Mann.«
»Er zeigt ihn mir immer«, sagte ich.
»Quatsch!«, herrschte meine Oma mich an. »Lass solche Dummheiten bloß niemanden hören. So etwas macht nur der Mann im Busch, aber doch nicht dein Papa!«
Der Mann im Busch? Mein Vater tat es nicht in einem Busch. Nein, nein, den Mann im Busch, den meinte ich nicht. »Er kommt in mein Bett«, hakte ich nach. »Er macht weißes Pipi.«
»Aber Monika!«, rief sie und schaute mich bitterböse an. »Wie kannst du nur so schändlich lügen! Pfui, schäme dich, du garstiges Ding!«
Kein Wort sprach sie mehr mit mir. Sie sah mich nicht einmal mehr an. Boris bekam Schokolade, ich bekam nichts.
»Oma«, flüsterte ich und wagte nicht, sie zu berühren. »Oma, ich bin wieder lieb, Oma.«
Sie antwortete nicht. Sie gab nicht einmal zu erkennen, ob sie mich gehört hatte.
»Pfui, schäme dich!«, hatte sie gerufen. Man muss sich schämen, wenn man schmutzig ist. Und ich schämte mich.
Heute weiß ich, dass es mein schlechtes Gewissen war, das es meinem Vater ermöglichte, mich unter Druck zu setzen und gefügig zu machen. Von Anfang an spürte ich, dass ich einen Fehler beging. Aber ich wusste nicht, was ich falsch machte. Es war nur die instinktive Gewissheit, dass irgendetwas nicht stimmte.
Es war eine geradezu teuflische Strategie, der ich erlag. Mein Vater benutzte und beschmutzte mich ja nicht nur – sondern indem er mir ein Geheimnis auferlegte, gab er mir das Gefühl, selbst schuldig zu sein. Indem er mich dazu brachte, das Geheimnis, das eigentlich einzig und allein das seine war, mit ihm zu teilen, wurde ich zu seiner Mittäterin. Mein Schweigen und mein Dulden waren meine Schuld. Sie machten mich zu einem schlechten und schmutzigen Mädchen.
Bis heute habe ich mir nicht verziehen, dass ich nicht schrie wie am Spieß, als mein Vater mir seinen ekelhaften Pimmel ins Gesicht und in den Bauch drückte; dass ich mich nicht lieber totprügeln ließ, anstatt zu tun, was er von mir verlangte; dass ich ihm meinen Körper gab, damit mein Hunger nach Nähe gestillt wurde.
Heute weiß ich, dass ich nicht schuldig gemacht werden kann für das, was mir mein Vater angetan hat. Dass ich mich nicht an ihn herangemacht habe, weil ich Sex von ihm wollte. Ich wusste ja damals noch nicht einmal, was das überhaupt war: Sex. Ich wollte nur gestreichelt werden, wollte in den Arm genommen werden.
Es hat lange gedauert, bis mir all dies bewusst geworden war. Mehrere Therapien, viele Gespräche mit Menschen, die mir zu helfen versuchten, und die Lektüre fremder – und mir doch so vertrauter – Lebensberichte waren nötig. Das Wissen, unschuldig zu sein, musste ich mir hart erarbeiten.
Doch noch immer gibt es neben der Frau Monika B., die um ihre Unschuld weiß und die es schaffte, ihr altes Leben abzuschütteln, Moni, das Kind. Bis heute kauert es in
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