Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)

Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)

Titel: Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Jäckel
Vom Netzwerk:
Untersuchungszimmer traten. Ich wagte mich nicht zu rühren, obwohl die Haarnester beim Kämmen schmerzhaft ziepten. Dann schob sie mich vor sich her durch die Tür.
    Der Schularzt war ein freundlicher Mann. Trotzdem hatte ich Angst vor ihm. Als er mich aufforderte, meine Kleider abzulegen, damit er mich abhorchen könne, musste meine Mutter mir erst gut zureden, bevor ich gehorchte. Während ich tief atmete, erkundigte sich der Arzt nach meinen Kruppanfällen. Wie besorgt meine Mutter damals tat! Ich sehe noch heute ihr falsches Gesicht so deutlich vor mir, als wäre es erst gestern gewesen.
    Schließlich ließ der Arzt mich auf einem Kreidestrich laufen und auf einem Bein hüpfen. Und dann sollte ich mit dem linken Arm über meinen Kopf an mein rechtes Ohr greifen und umgekehrt.
    Auf dem Strich lief ich etwas schief. Beim Hüpfen war ich etwas wacklig. Das Schlimmste aber: Mein linkes Ohr mit der rechten Hand und mein rechtes mit der linken anfassen konnte ich nicht.
    »Zieh dich bitte wieder an, Monika«, sagte der Arzt. »Du musst ein Weilchen vor der Tür warten; ich habe noch etwas mit deiner Mutter zu besprechen.«
    Meine Mutter musste mir helfen, die Jackenknöpfe zu schließen. Meine Finger fanden die Knopflöcher nicht.
    Draußen auf dem Armesünderbänkchen neben der Tür sitzend, spitzte ich die Ohren in der vergeblichen Hoffnung, etwas von der drinnen geführten Unterhaltung aufzuschnappen. Die Wartezeit schien ewig zu dauern. Dann endlich ging die Tür auf, und der Arzt bat mich herein.
    Wie streng meine Mutter mich ansah! Ihre Mundwinkel waren heruntergezogen, als hätte ich etwas ausgefressen. Ich wollte rufen: »Mama, ich war doch ganz lieb. Ich habe nichts angestellt. Ich habe nur gewartet, bestimmt!«
    Doch der Arzt nahm mich an beiden Armen und sagte: »Tja, kleines Fräulein, mit der Schule wird es diesmal noch nichts. Du musst erst noch ein bisschen wachsen.«
    Ich wollte nicht begreifen, was ich gehört hatte. Ich hatte doch schon so viele Zahlen auf dem Kalender abgestrichen! Ich wollte doch so gern lesen lernen! Flehend sah ich meine Mutter an.
    »Eine, die nicht einmal mit der Hand an ihr eigenes Ohr fassen kann!«, sagte sie mit diesem bösen Mund. »Solange du das noch nicht mal kannst, musst du eben wie ein Baby zu Hause bleiben.«
    »Na ja, gar so schlimm wird es schon nicht sein«, besänftigte der Arzt sie und tätschelte mir den Kopf. »Jetzt lassen wir unser Mädelchen erst einmal ein Jahr in die Vorschule gehen, und dann packt sie’s wie andere Kinder auch.« Er sah mich freundlich an und griff sich selbst mit der Hand über den Kopf ans Ohr. »Und nicht vergessen: Immer schön üben!«
    Während des ganzen Heimwegs sprach meine Mutter kein Wort mit mir.
    Stefan war schon zu Hause, als wir die Treppe hochkamen. »Na, alles klar? Gehst du?«, rief er und schaute mich erwartungsvoll an.
    »Die doch nicht!«, sagte meine Mutter. »Die ist noch zu dämlich, ihr eigenes Ohr zu finden.«
    Irgendetwas zersprang in mir. Ich kann nicht beschreiben, was in mir ablief. Ich weiß nur, dass ich laut aufschrie und mit dem Kopf gegen die Wand lief. Der Aufprall ließ mich rückwärts taumeln, doch noch im Stolpern warf ich mich erneut nach vorn, schlug nochmals gegen die Wand, nochmals, nochmals ...
    »Moni!« Georgs angstvolles Kreischen ließ mich zur Besinnung kommen. In meinem Kopf war ein Wirbeln und Summen, als wäre darin ein Scheibenwischer installiert. Georg hielt mich in den Armen. Aber es dauerte ein Weilchen, bis ich es merkte.
    Viele Jahre später, als Georgs Arme mich längst nicht mehr schützen konnten, sagte einer meiner Psychotherapeuten mir einmal, meine Sprache sei eine andere als die seine. Damals verstand ich ihn nicht; vielleicht wollte ich ihn nicht verstehen. Aber vergessen konnte ich seine Worte auch nicht. Jedes Mal wenn mir bewusst wird, dass ein anderer und ich aneinander vorbeireden, fallen sie mir ein. Und allmählich begreife ich auch ihren Sinn.
    Meine Sprache ist oft stumm, obwohl ich innerlich schreie. In Zeiten innerer Not bin ich oft unfähig, mich in ganzen Sätzen auszudrücken. Vielmehr übernimmt mein Körper die Aufgabe zu äußern, was in meiner Seele vorgeht. Er vermittelt zwischen mir und der Außenwelt, wo die übliche Sprache versagt.
    Oftmals gibt es für meinen Schmerz, meine Angst und Verzweiflung kein Wort, das ein anderer verstehen könnte. Und einen Satz zu konstruieren dauert häufig zu lange, weil das, was ich mitteilen will, wie eine

Weitere Kostenlose Bücher