Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
mein Vater diese für jedermann sichtbare Ausstattungsorgie inszenierte? »Weil er Schiss hat!«, sagte Georg.
Vielleicht hatte er Recht. Ich jedoch verspürte eher eine sich steigernde Lust am Spiel mit der Macht und zugleich auch mit der Gefahr bei ihm als »Schiss«. Niemand hatte meinen Vater bisher in seine Schranken verwiesen, ihn zur Rechenschaft gezogen oder sogar bestraft. Im Gegenteil, alles, was er im Schilde führte, gelang ihm. Niemand kam ihm auf die Schliche. Welche Lügen er auch verbreitete, jeder nahm sie ihm als Wahrheit ab. Selbst meine Mutter, unter deren Augen er mich geschwängert hatte, vertraute ihm blind.
Ich glaube, mein Vater hielt sich mittlerweile für unverwundbar. Es bereitete ihm einen Heidenspaß, alle Welt für dumm zu verkaufen. Seine Erfolge gaben ihm das Gefühl, der einzig Gescheite unter lauter Narren zu sein. Er konnte das perfekte Verbrechen begehen, ohne auch nur in Verdacht zu geraten. In kritischen Zeiten, wenn er entdeckt zu werden drohte, lief mein Vater zur Höchstform auf. Die Angst im Nacken, wurde ihm das Spiel zum reinen Genuss. Wie weit würde er den Bogen noch spannen können? Wie viel Lügen würden ihm die Leute noch abnehmen?
Selten war mein Vater stärker unter Druck als nach dem Sommer 1983. Er selbst verdächtigt, CDU -Gelder veruntreut zu haben, Stefan der Unterschlagung überführt, wir Kinder alle miteinander wiederholt beim Diebstahl ertappt – die gutbürgerliche Tarnung der Familie war brüchig wie noch nie.
Mit Feuereifer machte er sich nun daran, den guten Schein wiederherzustellen. Niemand durfte ja auf die Idee verfallen, die scheinbar fleckenlose Weste des braven Biedermannes etwas genauer zu betrachten. Was ihm blühte, wenn seine Geheimnisse ans Licht kämen, wusste er ja nur zu genau.
Eine seiner Gegenmaßnahmen war, den Anschein zu wecken, dass er und seine Frau sich für uns Kinder umbrachten, während sie selbst sich nicht das Mindeste gönnten. Die bestmögliche Schulbildung, neue Fahrräder, neue Möbel für uns, speziell für mich Modekleidung nach dem letzten Schrei – für meinen Vater abgewetzte Hosen und Anzüge mit durchgescheuerten Ärmelstößen, für meine Mutter hauptsächlich Selbstgestricktes, Selbstgenähtes oder Abgelegtes von ihren Schwestern oder Schwägerinnen.
»Können wir uns nicht leisten ...« Ich glaube, es gab in dieser Zeit keine häufiger benutzte Erklärung bei uns. Da mussten die Leute doch meinen Vater bewundern und sich ehrfurchtsvoll fragen, wie er es trotzdem schaffte, es seinen Kindern an nichts fehlen zu lassen.
Nur meine Mutter kratzte in dieser Krisenzeit trotz aller guter Vorsätze immer wieder einmal an dem sorgfältig aufgebauten Familien-Image. Wenn sie genügend Julia-Romane verschlungen und lange genug schluchzend im Bett gelegen hatte, brach irgendwann das Elend ihres Lebens über ihr zusammen. Und dann war Geld die einzige Droge, die half.
In solchen Stunden wurde ihr klar, dass sie als Callgirl so viel Geld anschaffte, dass sie sich ein wesentlich angenehmeres Leben hätte leisten können – hätte mein Vater ihr von diesem Geld etwas abgegeben und nicht alles nur für seine persönlichen Bedürfnisse eingesackt. Von dieser Überlegung bis zur Fälschung der Unterschrift meines Vaters auf einem Scheck war es nicht weit. Ein scheinbar gefahrloses Unterfangen, da sie sich nicht einmal persönlich an den Bankschalter begeben und einem Verdacht aussetzen musste. Vielmehr hatte sie – ach, so krank – das Bett zu hüten, während entweder Georg oder ich als Boten unterwegs waren.
Einmal verlor ich auf dem Weg von der Bank sechshundert Mark, weil ich die Scheine vor Hast nicht in der Tasche verwahrt, sondern offen in der Hand behalten hatte. Ich war das unglücklichste Kind der Welt und hätte vollstes Verständnis dafür gehabt, wenn mich meine Mutter erschlagen hätte. Sonderbarerweise erschlug mich niemand, nein, nicht die geringste Strafe wurde mir zuteil. Mein Vater, dem meine Mutter den Vorfall natürlich brühwarm vortrug, weil es ihr gefallen hätte, wäre er wütend auf mich los gegangen, wagte nicht, mich zu schlagen. Tante Inge, der ich mich in meiner Todesangst anvertraut hatte, hatte ein gutes Wort für mich bei ihm eingelegt, und sie war der vielleicht einzige Mensch auf der Welt, den mein Vater wirklich fürchtete. In ihren Augen wollte er gut sein, um jeden Preis. Und außerdem hatte er schönere Methoden, mich zu strafen, als eine Tracht Prügel. Es war gut, eine Wohltat
Weitere Kostenlose Bücher