Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter
Tiefe nach mir greifen. Sobald ich mich setze, ziehen sie mich hinab und mit sich fort in die ekelhafte Dunkelheit. Nur der Griff zum Lichtschalter kann mich in diesen Momenten retten. Der grellen Helligkeit hält der Spuk nicht stand.
Als ich noch ein Kind war, stellte die Toilette meiner Oma Berta in Essen einen der schrecklichsten Orte für mich dar. Lieber verkniff ich mir mein Bedürfnis, bis ich entweder vor Not wie ein Fragezeichen herumschlich oder mir schließlich sogar in die Hosen machte, als dass ich dort zur Toilette gegangen wäre. Jede Strafpredigt, selbst eine Tracht Prügel nahm ich dafür in Kauf. Aber den Klodeckel hob ich nicht, und auf die Brille gesetzt hätte ich mich um nichts in der Welt.
Ich weiß nicht mehr, wann das begann. War es vor jener grauenhaften Osternacht in der Eifel? War es nachher?
In der Erinnerung sehe ich uns Kinder wieder mit meiner Oma Berta durch die Essener Innenstadt schieben. Wie die Orgelpfeifen trippelten wir neben ihr, alle in einer Reihe.
Georg war noch ein Baby. Er weinte oft, nur im Kinderwagen blieb er still. Das sanfte Schaukeln gefiel ihm. Mir hätte es auch gefallen, aber mich schob schon lange niemand mehr. Ich war alt genug, der Oma schieben zu helfen.
Stefan führte Boris an der Hand. Sein dunkles Haar hob den Ältesten immer deutlich von uns drei Blondschöpfen ab.
»Oma!«, sagte er plötzlich und blieb stehen. »Oma, warum ist mein Opa denn nicht da?«
Mir war noch gar nicht aufgefallen, dass der Opa fehlte. Ich brauchte und vermisste ihn nicht. Im Gegenteil! Stefan aber liebte ihn.
Unsere Oma gab keine Antwort. Sie schob nur den Kinderwagen schneller. Wir rannten fast, um mit ihr Schritt halten zu können.
Doch Stefan ließ nicht locker. »Nun sag doch schon, Oma, wo ist er denn?«
»Dumme Frage!«, schimpfte meine Oma und blieb abrupt stehen. »Wo soll er wohl sein? Weg ist er, eine Station tiefer, ab ins Klo und rein in den Kanal! Der ist hin, der kommt nicht mehr zurück.«
»Nein!«, schrie Stefan so laut, dass alle Leute sich nach uns umdrehten. »Aber wie ist denn das möglich? Das geht doch nicht! Wie kann er da denn bloß reingefallen sein?«
»Deckel zu, Affe tot!«, sagte meine Oma. »Jeder kriegt, was er verdient. Vielleicht verdampft er ja gerade aus dem Schornstein da hinten.«
Wir Kinder reckten die Hälse. Unseren Opa sahen wir nicht, nur eine dicke Qualmwolke über einem hohen Schornstein.
»Hallo, Opa!«, juxte Boris sofort und winkte der Wolke zu. »Huhu! Halli hallo!«
Sogar meine Oma lachte. Nur Stefan sah aus, als würde er gleich losweinen.
»Kommt er denn nie wieder?«, fragte ich.
Meine Oma schüttelte den Kopf und ging weiter. »Ganz bestimmt nicht!«
Mir war danach zu lachen, zu tanzen, zu jubeln. Doch ich wagte nicht, meine Freude so unverhohlen zum Ausdruck zu bringen. Ich fing nur an, neben dem Kinderwagen her zu hüpfen.
»Aber er kann dich sehen«, fügte meine Oma hinzu. »Er sieht dich immer, von überall.«
»Aus dem Kanal?«, fragte ich und schlug hastig einen Bogen um einen Straßengully, an dem wir soeben vorbeikamen. Mir war, als sähe ich ihn da unten, wie er in dem Schmutzwasser schwamm und die dreckige Brühe in seinen geöffneten Mund floss. Wie schnell verging mir da das Hüpfen!
Meine Oma antwortete nicht mehr. Reden war nie ihre Stärke. Vielleicht hatte sie ja auch erreicht, was sie wollte. Es gefiel ihr nicht, wenn Kinder kindisch wurden.
Stefan aber ließ sich nicht einfach so abspeisen. »Wetten, dass er nicht im Kanal ist?«, schrie er und ging über dem Schacht, den ich so eilig gemieden hatte, in die Hocke. Er legte die Hände wie einen Trichter an den Mund und beugte sich so tief, bis sie an die Eisenstäbe des Abflussgitters stießen. Dann brüllte er: »Opa!«
Alles blieb still.
»Siehste, dass er nicht hier ist!«, sagte er. »Alles Scheiße, alles gelogen. Lauter Lügen, Lügen, Lügen!«
Ich blickte zur Oma auf. Was würde sie sagen? Was würde sie tun? Würde sie ihn schlagen?
Oma Berta sah meinen Bruder nur an. Ich hatte den Eindruck, sie war ihm nicht böse, kein bisschen. »Komm jetzt!«, sagte sie nur. »Die Leute gucken ja schon.«
Wir gingen lange spazieren. Den ganzen Weg über sagte Stefan kein Wort mehr. Uns Geschwistern fiel es nicht auf. Er war immer schon stiller und schweigsamer gewesen als die anderen.
Erst als wir wieder bei unserer Oma zu Hause waren und Kuchen essen wollten, merkten wir, dass ein Stuhl in der Tischrunde leer war. »Wo steckt der
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