Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter
ist.
Heute, im Licht deiner Kerze, habe ich beschlossen, aus dem, was ich für mich selbst zur Erinnerung niedergeschrieben habe, ein Buch zu machen. Ich will, dass dein Tod nicht umsonst war, Georg. Ich will, dass jeder weiß, warum du keinen anderen Ausweg mehr gesehen hast. Ich will, dass das geschieht, was dir wichtiger war als dein Leben: dass die Wahrheit über unser Leben ans Licht kommt.
Nur wer selbst durchgemacht hat, was ich bis heute und wohl bis ans Ende meines Lebens durchmachen muss, kann ermessen, wie schwer es fällt zu reden.
Aber ich rede!
Ich rede für dich, Georg. Und ich weiß, irgendwo tief in mir drinnen redest du mit.
I
Ich bin ein Wunschkind. Immer wieder haben meine Eltern es mir gesagt. Nicht um mich glücklich zu machen oder um auszudrücken, wie glücklich sie mit mir seien. Nein, vorwurfsvoll kam es und anklagend – so als hätte ich nicht verdient, ein Wunschkind zu sein.
Ein Wunschkind musste ein Wunderkind sein, nicht so ein dickes, unförmiges Kind wie ich, das anscheinend weder das Laufen noch das Sprechen lernen wollte und mit dem nirgendwo Staat zu machen war. An so eine wie mich war der Wunsch verschwendet. So eine wie mich hatten meine Mutter und meine Oma, ihre Mutter, sich nicht erträumt, als sie mich neun Monate lang beschworen, ein Mädchen zu werden. Die Krönung der Kinderschar in der Großfamilie sollte ich sein, das erste Mädchen unter lauter Jungen.
Ich werde wohl niemals begreifen, wie meine Mutter es verantworten konnte, sich so dringlich eine Tochter zu wünschen. Hatte sie wirklich vergessen, was sie doch am eigenen Leib erfahren hatte: dass Mädchen nur »anderer Leute Spielzeug« sind? Hatte sie sich allen Ernstes eingebildet, ich werde dem Teufelskreis entkommen? Konnte sie tatsächlich annehmen, meine Kindheit werde glücklicher verlaufen als ihre eigene? Glaubte sie, mich beschützen zu können? Oder war sie so fest überzeugt, dass mein Vater nie etwas Schlechtes tun werde? Dass er ein echter Vater sein werde, einer, der selbstlos lieben könne?
Zweifellos glaubte sie, mit meinem Vater das große Los gezogen zu haben. Er hatte ihr bewiesen, dass er sie liebte und achtete, indem er sie zur Frau nahm. Er hatte ihr auch bewiesen, dass er ein Herz für Kinder besaß. Er war lieb zu ihrem Sohn, den sie mit in die Ehe gebracht hatte. Er bemühte sich, ihn mit Vateraugen zu sehen. Er akzeptierte ihn. Ja, er sorgte sogar dafür, dass der Kleine rechtmäßig unseren Nachnamen tragen konnte und so auch nach außen hin voll zur Familie gehörte. Eine Adoption war es zwar nicht – sonst wäre die Alimentenzahlung des leiblichen Vaters entfallen –, aber es machte doch deutlich, dass mein Vater nur das Beste für das Kind wollte. Meine Mutter war glücklich, einen solchen Mann gefunden zu haben. Sah es nicht aus, als wären die schlimmen Zeiten endgültig vorbei? Als ginge es endlich mit Riesenschritten in eine glückliche Zukunft?
Vielleicht wünschte sich meine Mutter eine Tochter, um in dieser sich selbst neu zu erleben. Vielleicht wollte sie erfahren, wie es ist, wenn ein kleines Mädchen glücklich ist. Womöglich bildete sie sich sogar ein, mit einer solchen Erfahrung aus zweiter Hand ihre eigenen Erfahrungen auslöschen zu können. Ich habe nie mit ihr darüber gesprochen.
Ich lernte einmal eine junge Mutter kennen, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden war und zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, hatte. Sie identifizierte sich sehr stark mit ihrer Tochter, während sie zu dem Jungen ein viel problematischeres Verhältnis hatte. Sie sagte, sie könne irgendwie nicht natürlich mit ihrem Sohn umgehen. Wenn er zum Beispiel eine Erektion bekäme, was ja schon bei Babys passiert, oder an sich herumspielte – das wären Situationen, in denen sie nicht richtig zwischen dem Kind und dem Mann in ihm unterscheiden könne und in denen sie sich vor ihrem eigenen Kind ekeln würde. Sie hatte Angst, ihren Sohn in so einer Situation zu berühren oder auch nur mit ihm über sein Geschlechtsteil zu reden. Der Grund war nicht nur Ekel, sondern mehr noch die Angst, der Junge könne meinen, sie wolle ihn missbrauchen.
Für die Frau war dies alles ganz furchtbar. Sie schämte sich wegen ihrer Empfindungen und befürchtete, dem Jungen eine schlechte Mutter zu sein. Sie sagte, sie scheue jede Berührung mit ihm, weil sie ihn zu lieb habe, um ihm schaden zu wollen. Das verstand der Junge aber nicht, wie sollte er auch. Er bildete sich ein, die Mutter
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