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Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter

Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter

Titel: Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Jaeckel
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erwarten, schämte sich das ach so treusorgende, stets um das Wohl ihrer Kinder besorgte Elternpaar für den auf die schiefe Bahn geratenen Sohn. In den Augen der Verwandten hatte mein Vater natürlich gar keinen Grund, sich zu schämen. Er hatte alles Menschenmögliche unternommen, diesem Jungen den bestmöglichen Start ins Leben zu geben. Er hatte ihm seinen ehrlichen Namen verliehen, ihm eine optimale Schulbildung finanziert, eine Laufbahn im Staatsdienst eröffnet – kurz: ihn wie einen eigenen Sohn geliebt und behandelt.
    Der Vorwurf traf einzig und allein meine Mutter. Sie hatte dieses Kind unehelich in die Ehe gebracht. In ihm floss kein Tropfen B.sches Blut, dafür hatte er umso mehr von ihr mitbekommen – der Schlampe, der Scheckfälscherin und Schuldenmacherin, der schlechten Mutter, die ihre Kinder verlausen und verkommen ließ. Kein Wunder, dass aus Stefan nichts Rechtes geworden war. Der Apfel fällt nun mal nicht weit vom Stamm.
    Meiner Mutter blieb das Getuschel der Nachbarn und Freunde natürlich nicht verborgen. Sie sah die Scheinwelt brüchig werden, hinter der sie sich verschanzt hatte, und geriet in Verzweiflung und Wut. Wieder einmal brachte dieses unerwünschte, ungeliebte, ihr zur Qual gewordene Kind sie in Verruf. Wieder einmal zeigten die Leute mit Fingern auf sie. Wieder einmal wühlte man öffentlich in der kunstvoll vertuschten Schande ihres Lebens herum. Wieder einmal stand sie als Versagerin da. Und als wäre all dies nicht schon unerträglich genug, besaß dieser Klotz an ihrem Bein auch noch die geradezu unfassbare, unverzeihliche Dummheit, seiner Schwester ein Kind zu machen. So viel Rücksichtslosigkeit und Undank schlugen dem Fass den Boden aus.
    In den Augen meiner Mutter gab es nur eine Möglichkeit, sich für jeden sichtbar von dem schwarzen Schaf zu distanzieren und damit ihre eigene Unschuld wiederherzustellen: Stefan musste ausziehen.
    »Raus! Verschwinde! Du bist nicht mehr mein Sohn! Ich will dich hier nicht mehr sehen!« So hatte sie es selbst mit Stefan im Bauch von ihren Eltern erfahren, und so gab sie es nun weiter. Wer zu dumm ist, die Spielregeln des Lebens zu lernen, hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn er scheitert.
    Doch meine Mutter hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Ausgerechnet diesmal fiel ihr mein Vater in den Rücken. Stefan gerade in diesem Moment vor die Tür zu setzen, in dem alle Welt auf die Familie starrte, erschien ihm äußerst unklug. Weit geschickter war es doch, damit einige Zeit zu warten und den Gaffern eine heile Welt vorzugaukeln. Sobald etwas Gras über die Sache gewachsen wäre, würde ein Auszug kein Problem mehr sein. Schließlich war Stefan in einem Alter, in dem Kinder sowieso flügge werden. Niemand würde seinem Rauswurf dann mehr Bedeutung zumessen, und den Gerüchten wäre der Boden entzogen.
    Wie immer gab meine Mutter nach. So blieb Stefan wenigstens der offizielle Hinauswurf erspart.
    Die Kleinen hätten von alldem nichts mitbekommen sollen. Geheimnisse waren ja die Spezialität des Hauses. Aber natürlich hatte Georg wie üblich seine Ohren überall. Seine Nachricht, dass Stefan rausgeschmissen werden solle, erreichte mich noch in der Kur.
    Ich reagierte mit dem ersten Weinanfall meines Lebens sowie mit dem Beginn einer bis heute unbewältigten schweren Essstörung. Tagelang lief ich mit rot entzündeten Augen im Kurheim umher und verweigerte jede Mahlzeit. Unerwarteterweise wurde dies zu einer positiven Erfahrung für mich: Mein Körper wurde dünner und dünner, weil ich ganz allein es veranlasste und wollte.
    Mein stummer Protest – dies war ebenso überraschend – führte nicht etwa dazu, dass man meine Eltern anrief und sie zur Rede stellte, sondern man sprach mit mir . »Wenn du weiterhin so großes Heimweh hast, dass du immer weinst und nichts essen willst, brechen wir die Kur ab und schicken dich nach Hause.« Die Kurärztin sagte es ganz freundlich.
    Ich starrte sie sprachlos vor Entsetzen an. Nach Hause zurück? Fort von hier, wo es mir wie im Paradies erschien? Wo ich endlich frei war, ohne Gewalt, ohne Erpressung, ohne Missbrauch? Verzweiflung keimte auf. Warum verstand mich denn niemand? Warum begriff denn keiner, was ich wirklich wollte?
    Die Kurärztin lachte mich an. »Möchtest du denn gern nach Hause zurück?«
    Heftig schüttelte ich den Kopf. Ich wollte nicht zurück, nie mehr wollte ich zurück! Es tat so gut, hier zu sein.
    »Hast du denn kein Heimweh?«
    Wie freundlich diese fremde Frau mich

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