Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter
ansah. Sie erwartete eine Antwort. Aber was sollte ich denn sagen? Ich durfte doch nichts sagen!
»Ist es wegen deines Bruders?«
Woher wusste sie das? Wer hatte ihr von Stefan erzählt?
Als hätte sie meine Gedanken erraten, erzählte sie mir, sie habe Tante Inge angerufen. Diese hatte ihr die böse Geschichte mit Stefan anvertraut und ihr auch gesagt, wie sehr mich dies alles belaste, weil wir Geschwister alle ein enges, liebevolles Verhältnis zueinander hätten. »Ist es wegen deines Bruders?«, fragte die Ärztin noch einmal. »Tut er dir so Leid?«
»Ja«, sagte ich. Stefan tat mir wirklich Leid, sogar ganz furchtbar Leid. Er hatte nur getan, was unsere Eltern ihm jahrelang selbst vorgemacht hatten. Sie waren die Schuldigen, nicht er. Er war erwischt worden und musste nun ihre Zeche bezahlen.
Doch in meinen Gedanken drängte sich Georg vor Stefan. Ich wusste, was er in diesem Moment von mir erwartete. Ich hörte seine Stimme, die mich drängte, jetzt und auf der Stelle alles zu sagen.
Aber ich konnte es nicht. Wieder versagt, wieder eine Chance vertan. Ich stand neben mir und ergründete ganz sachlich meine eigenen Motive, und mir wurde so klar bewusst wie nie zuvor, wie sehr ich Papas Geheimnis zu meinem eigenen gemacht hatte. Es war nicht mehr nur sein Befehl, der mich zum Schweigen brachte, es war viel mehr meine Scham.
Vielleicht hätte ich mich doch überwunden zu reden, wenn die Kurärztin weiter in mich gedrungen wäre. Aber Tante Inges Erklärung für meine Essstörung war einleuchtend. Da gab es nichts mehr zu fragen. Dass ich Mitleid mit meinem Bruder hatte, schien Grund genug für mein Verhalten. Warum sollte sie nach weiteren Gründen suchen?
»Du wirst sehen, alles wird gut«, meinte sie. »Jeder begeht einmal eine Dummheit. Werde du erst wieder ganz gesund hier bei uns; damit kannst du deinem Bruder am besten helfen.«
Meine Chance, mich zu öffnen, war vertan. Es war die letzte für lange, lange Zeit.
Als ich nach der dreiwöchigen Kur nach Hause zurückkehrte, war Stefan zwar noch nicht offiziell ausgezogen, hielt sich jedoch überwiegend in einer Wohngemeinschaft auf und kam auch nachts kaum noch zu uns. Sobald er eine neue Lehrstelle und wieder ein geregeltes Einkommen hatte, wollte er endgültig bei der Wohngemeinschaft einziehen.
Das alles erzählten mir Georg und Boris heimlich, denn vor meiner Mutter durfte Stefan nicht mehr erwähnt werden. »Bei denen sieht’s aus, also, dagegen ist das hier bei uns noch Gold«, sagte Georg, der Stefan sogar schon einmal besucht hatte. »Alles Schrottmöbel und überall Viehzeug, ekelhaft!«
Als wir hörten, dass mein Vater trotz der Schande, die Stefan ihm bereitet hatte, einen Kredit aufnahm, um das veruntreute Geld an Stefans ehemaligen Arbeitgeber zurückzuzahlen und unseren Bruder vor einer harten Gefängnisstrafe zu bewahren, waren wir sehr erleichtert. Georg meinte zwar, mein Vater habe gar keine andere Wahl: Stefan habe unseren Vater schließlich in der Hand und könne ihn ins Gefängnis bringen, wenn er den Bullen erzähle, was bei uns lief. Aber Boris und ich hielten das für totale Spinnerei.
»Du glotzt zu viel Krimis!«, sagte Boris. »Stefan erpresst doch seinen eigenen Vater nicht!«
»Ach nein, so was tut der nicht?«, rief Georg. »Und was ist mit Monika? Hat er die etwa nicht erpresst, dass sie ihm einen runterholen muss und alles?«
»Ach, das!«, grinste Boris und sah mich von der Seite an. »Was war denn das schon? Spielchen! Wegen so was wird einer doch nicht gleich kriminell.«
Georg gab auf. »Ich weiß, was ich weiß«, sagte er. »Und dass du sowieso nichts blickst, weiß doch jeder.«
Mit dieser gehässigen Bemerkung spielte Georg darauf an, dass Boris seit einiger Zeit für unsere Mutter ebenso zum Verein der Gehirnamputierten gehörte wie Georg und ich. Seitdem er das Probejahr im Gymnasium nicht gepackt hatte und auf die Hauptschule zurückmusste, stand dieses Verdikt fest.
Da half es auch nichts, dass mein Vater wetterte, Boris sei zum Schulversager abgestempelt worden, weil man ihn, den Vater, treffen wollte und keine andere Chance sah, ihm ans Bein zu pinkeln. Zur damaligen Zeit war nämlich gerade die politische Karriere meines Vaters in der CDU und im Stadtrat meiner Heimatstadt unrühmlich beendet worden. Eine Prüfung der von ihm verwalteten Parteikasse hatte einen Fehlbetrag ergeben. Mein Vater geriet in Verdacht. Nachweisen konnte man ihm allerdings nichts. Lügen und Vertuschen waren schließlich
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