Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter
Sitzenbleiben in der achten Klasse und Stefans Sündenfall in Verbindung gebracht wurden. Das Fehlverhalten der Kinder durfte nicht auf das Vorbild der Eltern zurückgeführt werden. Es galt also zu zeigen, dass diese über jeden Verdacht erhaben waren. Was konnte hierfür besser geeignet sein als gemeinsame Unternehmungen in öffentlichkeitswirksamer Form?
Aus diesem Grunde unternahmen wir von nun an eine Fahrradtour nach der anderen. An eine von ihnen erinnere ich mich besonders gut. Die Fahrt führte über eine Entfernung von über hundert Kilometern an Dortmund vorbei ins Lippeland, wo wir Verwandte hatten. Meine Mutter, die mittlerweile den Führerschein erworben hatte, fuhr uns mit dem Auto voraus. An einem vereinbarten Treffpunkt hinter Dortmund sollte sie uns mit Brötchen und Getränken erwarten.
Die Strecke von uns aus bis Dortmund ist die reinste Schinderei. Bergauf, bergab, bergauf – wer da keine Kondition hat, ist verloren. Wir schwitzten alle wie die Tiere, und mein Vater musste uns immer wieder anfeuern – ganz besonders mich. Ich hatte nicht nur die schlechteste Kondition und das schlechteste Rad, dessen Gangschaltung nicht funktionierte, sondern auch ständig heftige Schmerzen. Ich scheuerte mich wegen der Narben im Genitalbereich auf dem ungepolsterten Uraltsattel auf und konnte nach einer Weile kaum mehr sitzen.
Mein Vater und Boris amüsierten sich köstlich über mich. Georg jedoch konnte die Quälerei schließlich nicht mehr mit ansehen und tauschte mit mir das Rad. Da kam er aber schön bei meinem Vater an! Mich auf Georgs neuem Rad sehen und losbrüllen waren für ihn eines. Ob ich mich denn nicht schäme, meinem kleinen Bruder das Rad abzuluchsen? Schließlich sei er jünger und schwächer und habe sein Rad weiß Gott nötiger als ich.
Das Rad war schnell wieder abgegeben. Der Zorn meines Vaters verrauchte weniger rasch. Kaum hatten wir endlich den vereinbarten Rastplatz erreicht, an dem meine Mutter schon wartete, griff mein Vater das Thema wieder auf. »Wenn du jetzt schon so kaputt bist, dass dein kleiner Bruder dich locker in die Tasche stecken kann, packen wir dich doch lieber gleich mitsamt dem Rad ins Auto«, sagte er. »Bei deinem Schneckentempo kommen wir ja nie mehr an.«
»Quatsch!«, schrie ich. »Ich kann noch! Ich will mit euch mit und nicht mit dem doofen Auto!«
Meine Mutter setzte ihr Ach-du-Niete-Grinsen auf. Wahrscheinlich sah sie mich im Geiste schon neben sich im Auto sitzen und überlegte, wie sie mich unterwegs am besten fertig machen könnte: Was für ein Versager ich doch wäre, und dass sie ja schon immer gewusst hätte, dass ich sogar zum Fahrradfahren zu blöd sei. Nein, diese Blöße konnte ich mir nicht geben!
Also bettelte ich noch einmal: »Lass mich doch weiterfahren, Papa! Ich schaff’s bestimmt! Ich jammer auch nicht mehr. Bitte, Papa, nimm mich doch mit!«
Das Glitzern in den Augen meines Vaters kam nicht vom Licht. Ich kannte es schon. »Also gut«, sagte er. »Aber nur, wenn du lieb bist!«
Wir wussten beide, was das hieß. Meine Mutter sah von einem zum anderen. Kannte sie diesen Blick an Papa auch? Als sie wütend zu kreischen begann, dass es doch immer wieder dasselbe Spiel sei, dass Papa sich jedes Mal von mir um den Finger wickeln lasse, wusste ich, dass auch sie verstanden hatte, was »lieb sein« hieß.
Doch was meine Mutter dachte, war mir in diesem Moment völlig egal. Ich wollte nicht mit ihr mitfahren. Lieber biss ich die Zähne zusammen.
Wie ich den Rest der Strecke auf diesem elend harten Sattel überstand, weiß ich nicht. Von der Landschaft, die allmählich immer ebener wurde, nachdem wir die qualmenden Schlote des »Reviers« längst hinter uns gelassen hatten, sah ich nicht mehr viel. Aber ich machte nicht schlapp. Wieder und wieder spornte ich mich selbst an. Nur keine Blöße geben! Und ich hielt durch. Dass meine Narben an der Scheide aufrissen und bald eine einzige offene Wunde waren, ging keinen etwas an. Was wog der Schmerz gegen den Triumph, durchgehalten zu haben?
Das Geld floss immer üppiger. Meine Eltern gönnten sich mehrere Kurzurlaube in der Eifel, wo sie sich bei und mit Freunden vergnügten. Und unerwarteterweise waren nun auch Mittel für ein neues Kinderzimmer vorhanden. Endlich wurde frisch tapeziert, wir erhielten Schränke und Regale, das alte Sofa, auf dem meist Stefan geschlafen hatte, landete auf dem Sperrmüll, und ein neues Etagenbett ersetzte das wacklige alte. Nur die Ausziehliege blieb.
Warum
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