Monkeewrench 06 - Todesnaehe
nachzufahren. Nichts. Schließlich bog Grace auf den Kreisverkehr am Pattern Lake ab und schlug einen Fluchtkurs ein, der sie auf die Interstate 94 führen würde. Nach Nordwesten hin kam man auf diese Weise am schnellsten aus der Stadt, und die Straßen waren eben und gerade.
Hinter ihr lehnte John sich in seinem Sitz zurück. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit atmete er tief durch und gestattete sich ein kleines Lächeln. Er war wieder bei den einzigen Freunden, die er hatte und denen er vertraute, und genau da wollte er für immer bleiben.
Ein längst verschütteter Überlebensinstinkt hatte die Führung übernommen. Die nächste halbe Stunde hindurch sagte keiner der vier Monkeewrench-Partner ein Wort. Sie waren angespannt und auf der Hut, spähten durch die Windschutzscheibe, durch das Rückfenster und aus den Seitenfenstern. Grace blickte immer wieder in den Rückspiegel, scannte jeden Wagen, der an ihnen vorbeifuhr. Hin und wieder sah sie auch John an: Er schien zu schlafen. Seine Miene war so entspannt und friedlich wie die eines Kindes, das den Menschen, bei denen es sich befindet, uneingeschränkt vertraut. Sie fragte sich, was er in der vergangenen Woche wohl durchgemacht hatte.
Ein Teil von ihr wünschte sich, er würde ihr sagen, was zu tun war.
Hol das Großsegel ein, Grace, schön langsam, dann können wir wenden, ohne dass uns der halbe Wind erwischt.
Sie hatte seine Anweisungen problemlos annehmen können, weil sie nichts übers Segeln wusste. Dabei hatte sie zum ersten Mal die glückselige Erleichterung kennengelernt, wenn man vollkommen darauf vertrauen kann, dass jemand anders schon das Richtige tut. Es war ein umwerfendes Gefühl gewesen, die Verantwortung für ihr eigenes Wohl endlich einmal abzugeben. Wahrscheinlich empfand John jetzt genau dasselbe. Er konnte seine Augen geschlossen halten, weil er sich auf die der anderen verließ.
Aber es war auch eine andere Situation. Grace war auf den Straßen ihres eigenen Territoriums unterwegs, und sie wusste ganz genau, was zu tun war, ohne irgendjemanden zu fragen. Sie bog von der Autobahn ab und hielt am Anfang einer langen Ausfahrt den Blick in den Rückspiegel gerichtet. «Annie, im Handschuhfach liegt eine Karte von Minnesota. Such mir eine Nebenstraße nach Norden.»
«Sag ich dir nicht immer, du sollst dir endlich ein Navi zulegen?»
«Nicht für alles Geld der Welt.»
«Kann ich das Deckenlicht anmachen?»
«Nein. Hier vorn ist ein kleiner Strahler.»
Nach etwas leisem Gegrummel und Papierrascheln ließ sich Annie wieder vernehmen: «Anderthalb Kilometer nach rechts, dann links für ein paar Kilometer auf den Highway 27 … Hast du denn eine grobe Richtung im Kopf? Ich kann dich nach Kanada lotsen oder nach North Dakota …»
«Wir brauchen eine Telefonzelle», meldete sich John vom Rücksitz zu Wort. «Aber nicht an einer Tankstelle oder sonst einem beleuchteten Ort.»
«Na, dann viel Glück», brummte Harley. «Ich habe seit zehn Jahren keine Telefonzelle mehr gesehen. Alle vom Handy vernichtet.» In den allermeisten Lebenslagen war Harley Davidson eine gewaltige, ehrfurchtgebietende Erscheinung. Aber so zusammengekauert wie ein unartiges Kind auf dem mittleren Platz des Rücksitzes, die Füße in den Biker-Boots rechts und links vom Mitteltunnel, machte selbst er einen etwas kläglichen Eindruck.
«Achtet auf Hinweisschilder», sagte Grace. «Je weiter wir nach Norden kommen, desto wahrscheinlicher wird es, dass wir irgendwo eine Telefonzelle finden. Auf dem Land hat man zu Handys immer noch kein rechtes Vertrauen.»
Roadrunner atmete erleichtert auf. Zwar hatte er selbst oft nicht viel zu sagen, doch es beruhigte ihn immer, die Stimmen seiner Freunde zu hören. Ihn hatte die Stille bedrückt, die bisher im Wagen geherrscht hatte. «Wen wollen wir denn anrufen?», erkundigte er sich jetzt zaghaft.
«Ich muss Magozzi verständigen», sagte Grace. «Sonst gerät er in Panik, wenn er versucht, mich anzurufen, und mich nicht erreicht.»
«Den wollte ich auch sprechen», sagte John. «Gino und er ermitteln in den vier Morden in Little Mogadishu. Das bringt den Durchbruch in diesem Fall.»
Annie drehte sich zu ihm um, ohne auch nur eine einzige Feder an ihrem Kleid zu verbiegen. «Der Durchbruch ist längst da, Süßer. Anscheinend wurde deinetwegen ein ganzer Haufen Terroristen ermordet.»
John nickte. «Offenbar, ja. Ich verstehe bloß nicht, wie. Was habt ihr denn sonst noch mit dem Abbild meiner Festplatte
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