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Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran

Titel: Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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kann. Dies Stückchen Haut, das uns fehlt, ist das Mal Abrahams. Bei der Beschneidung muß der Vater seinen Sohn halten, der Vater bringt seinen eigenen Schmerz dar zur Erinnerung an das Opfer Abrahams.«
    Durch Monsieur Ibrahim begriff ich, daß die Juden, die Muselmanen und sogar die Christen sich einen Haufen bedeutender Männer teilten, bevor sie damit begannen, sich gegenseitig die Schädel einzuschlagen. Was mich zwar nichts anging, aber mir irgendwie guttat.
    Nach unserer Rückkehr aus der Normandie, als ich wieder in die dunkle und leere Wohnung kam, fühlte ich mich nicht anders, nein, ich fand aber, daß die Welt anders sein könnte. Ich sagte mir, daß ich die Fenster aufmachen könnte, daß die Wände heller sein könnten, ich sagte mir, daß mich nichts zwang, diese Möbel zu behalten, die nach Vergangenheit rochen, nach keiner sehr schönen Vergangenheit, nein, nach einer alten Vergangenheit, einer ranzigen, die wie ein alter Scheuerlappen stinkt.
    Ich hatte kein Geld mehr. Ich begann, die Bücher zu verkaufen, stapelweise, an jene Bouquinisten am Ufer der Seine, die ich bei den Spaziergängen mit Monsieur Ibrahim entdeckt hatte. Jedesmal, wenn ich ein Buch verkauft hatte, fühlte ich mich ein bißchen freier.
    Drei Monate waren jetzt vergangen, seitdem mein Vater verschwunden war. Ich tat immer noch so, als ob ich für zwei kochte, und seltsamerweise fragte mich Monsieur Ibrahim immer weniger nach ihm. Meine Beziehung zu Myriam verschlechterte sich zusehends, aber sie lieferte mir jede Menge Stoff für meine abendlichen Gespräche mit Monsieur Ibrahim.
    Sicher, an einigen Abenden wurde mir das Herz schon schwer. Weil ich an Popol dachte. Jetzt, wo mein Vater nicht mehr da war, hätte ich Popol gern kennengelernt. Bestimmt würde ich ihn nun besser ertragen, da er mir nicht mehr ständig als das Gegenteil zu meiner Nichtsnutzigkeit vor die Nase gehalten wurde. Oft, vor dem Einschlafen, dachte ich daran, daß ich irgendwo auf der Welt einen Bruder hatte, schön und ohne Fehl und Tadel, ich kannte ihn zwar nicht, würde ihn aber möglicherweise eines Tages kennenlernen.
    Eines morgens klopfte die Polizei an die Tür. Sie schrien wie im Film.
    »Aufmachen! Polizei!«
    Ich sagte mir: Da haben wir's, es ist aus, ich hab zuviel geschwindelt, sie wollen mich verhaften.
    Ich zog mir einen Bademantel über und habe alle Riegel aufgemacht. Sie sahen gar nicht so grimmig aus, wie ich gedacht hatte, sie haben sogar höflich gefragt, ob sie reinkommen dürften. Was mir ganz recht war, da ich mich lieber noch anziehen wollte, bevor ich ins Gefängnis ging.
    Im Salon nahm der Kommissar meine Hand und sagte freundlich zu mir:
    »Mein Junge, wir haben eine schlechte Nachricht für Sie. Ihr Vater ist tot.«
    Ich weiß nicht, was mich im Grunde mehr überrascht hat, der Tod meines Vaters oder daß der Bulle Sie zu mir gesagt hat. Jedenfalls bin ich daraufhin erst mal in den Sessel gesackt.
    »Er hat sich in der Nähe von Marseille vor einen Zug geworfen.«
    Auch das war merkwürdig: Deswegen nach Marseille zu fahren! Züge gibt es doch überall. Sogar in Paris, jede Menge, wenn nicht noch mehr. Also wirklich, ich konnte meinen Vater einfach nicht verstehen.
    »Alles deutet daraufhin, daß Ihr Vater verzweifelt war und freiwillig aus dem Leben geschieden ist.«
    Ein Vater, der Selbstmord macht, das trug auch nicht gerade dazu bei, mich besser zu fühlen. Ich fragte mich, ob ich letzten Endes nicht lieber einen Vater gehabt hätte, der mich verläßt; dann hätte ich wenigstens annehmen können, daß ihn sein schlechtes Gewissen zerfrißt.
    Die Polizisten schienen mein Schweigen zu verstehen. Sie schauten sich die leeren Bücherregale an, die triste Wohnung, in der sie sich befanden, und dachten wohl, uff, nur noch ein paar Minuten, und wir sind weg.
    »Wen sollen wir benachrichtigen, mein Junge?«
    Da reagierte ich endlich angemessen. Ich stand auf und holte die Liste mit den vier Namen, die er dagelassen hatte, als er ging. Der Kommissar steckte sie ein.
    »Wir werden die ganze Sache dem Jugendamt melden.«
    Dann kam er auf mich zu, schaute mich an wie ein geprügelter Hund, und sofort ahnte ich, daß er mich gleich etwas Furchtbares fragen würde.
    »Ich muß Sie jetzt um etwas Unangenehmes bitten: Sie müssen die Leiche identifizieren.«
    Das wirkte auf mich wie ein Alarmsignal. Ich fing an zu schreien, als hätte man auf einen Knopf gedrückt. Die Polizisten sprangen um mich herum, als suchten sie den Abstellschalter.

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