Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran
Portion in den Ausguß kippte.
Wegen der Nachbarn von gegenüber setzte ich mich ein paar Abende in der Woche in seinen Sessel, hatte dabei seinen Pulli, seine Schuhe an, dazu Mehl in den Haaren, und versuchte, den schönen, nagelneuen Koran zu lesen, den mir Monsieur Ibrahim geschenkt, um den ich ihn angebettelt hatte.
In der Schule, sagte ich mir, war keine Sekunde zu verlieren: Ich mußte mich verlieben. Viel Auswahl gab es nicht, denn wir waren keine gemischte Schule; alle waren in die Tochter des Hausmeisters verknallt. Myriam, obwohl erst dreizehn Jahre alt, hatte sehr schnell spitzgekriegt, daß sie die Herrin über dreihundert lechzende Pubertätlinge war. Mit der Inbrunst eines Ertrinkenden fing ich an, ihr den Hof zu machen.
Zack: Lächeln!
Ich mußte mir beweisen, daß man mich lieben konnte, ich mußte es der ganzen Welt zeigen, bevor man entdeckte, daß sogar meine Eltern, die einzigen Menschen, die verpflichtet gewesen wären, mich zu ertragen, es vorgezogen hatten, sich aus dem Staub zu machen.
Ich erzählte Monsieur Ibrahim von meiner Eroberung Myriams. Er hörte mir zu, mit dem zarten Lächeln von einem, der bereits weiß, wie die Geschichte ausgeht, während ich so tat, als bemerkte ich das nicht.
»Und wie geht es deinem Vater? Ich sehe ihn morgens gar nicht mehr...«
»Der hat viel zu tun. Bei seiner neuen Stelle muß er sehr früh aus dem Haus...«
»Ah ja? Und es macht ihn nicht wütend, daß du in dem Koran liest?«
»Ich tu's eh heimlich..., und verstehen tu ich sowieso nicht viel.«
»Will man etwas lernen, greift man nicht zum Buch. Man sucht sich Leute, mit denen man reden kann. Ich glaube nicht an Bücher.«
»Obwohl Sie mir immer selbst sagen, Monsieur Ibrahim, daß Sie wissen, was...«
»Ja, daß ich weiß, was in meinem Koran steht..., Momo, ich hätte Lust aufs Meer. Wir könnten in die Normandie fahren. Kommst du mit?«
»Oh, wirklich?«
»Natürlich nur, wenn dein Vater einverstanden ist.«
»Er wird einverstanden sein.«
»Bist du sicher?«
»Wenn ich's Ihnen sage, er wird einverstanden sein!«
Als wir die Halle des Grandhotels in Cabourg betraten, konnte ich mich nicht zurückhalten: Ich mußte weinen. Zwei, drei Stunden lang hab ich geweint, ich konnte mich gar nicht mehr beruhigen.
Monsieur Ibrahim sah zu, wie ich weinte. Voller Geduld wartete er, daß ich was sagte. Dann endlich konnte ich wieder reden:
»Es ist zu schön hier, Monsieur Ibrahim, viel zu schön. Das ist nichts für mich. Ich bin es nicht wert.«
Monsieur Ibrahim lächelte.
»Die Schönheit, Momo, ist überall. Wohin du auch deine Augen wendest. Das steht in meinem Koran.«
Danach sind wir am Meer spazieren gegangen.
»Weißt du, Momo, dem Menschen, dem nicht Gott direkt das Leben offenbart hat, dem wird es auch kein Buch offenbaren können.«
Ich habe ihm von Myriam erzählt, habe ihm alles mögliche über sie erzählt, bloß um zu vermeiden, über meinen Vater zu reden. Nachdem sie mich in ihren Hofstaat von Verehrern aufgenommen hatte, fing sie an, mich als ihrer nicht würdig zurückzuweisen.
»Das macht gar nichts«, sagte Monsieur Ibrahim. »Deine Liebe zu ihr gehört dir. Die kann dir keiner nehmen. Auch wenn sie sie nicht annimmt, kann sie daran nichts ändern. Ihr entgeht nur was, das ist alles. Was du verschenkst, Momo, bleibt immer dein Eigen; was du behältst, ist für immer verloren!«
»Aber Sie haben doch eine Frau?«
»Ja.«
»Und warum sind Sie nicht mit ihr hier?«
Er zeigte mit dem Finger aufs Meer.
»Das hier ist wirklich ein englisches Meer, grün und grau, keine normale Farbe für das Wasser, man könnte meinen, es hätte diesen Akzent angenommen.«
»Wollen Sie mir zu Ihrer Frau nicht antworten, Monsieur Ibrahim? Zu Ihrer Frau?«
»Momo, keine Antwort ist auch eine Antwort.«
Jeden Morgen stand Monsieur Ibrahim als erster auf. Er ging ans Fenster, streckte seine Nase ins Licht und machte seine Gymnastik, langsam - jeden Morgen, ein ganzes Leben lang, seine Gymnastik. Er war unglaublich gelenkig, und von meinem Kopfkissen aus, wenn ich die Augen halb aufmachte, meinte ich, den jungen, schlanken und unbekümmerten Mann zu sehen, der er vor sehr langer Zeit gewesen sein mußte.
Zu meinem großen Erstauen entdeckte ich eines Tages im Badezimmer, daß Monsieur Ibrahim beschnitten war.
»Sie auch, Monsieur Ibrahim?«
»Die Moslems, Momo, genauso wie die Juden. Das ist das Opfer von Abraham:
Er streckt sein Kind Gott entgegen und sagt ihm, daß er es haben
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