Monströse Welten 2: Hobbs Land
wolkenverhangenen Himmel und pflichtete ihr bei. Die ersten schweren Tropfen klatschten ihr bereits ins Gesicht. Sie waren kalt wie Eis. Sie und die Wilm-Brüder, gefolgt von anderen Siedlern, transportierten China durch das Dorf der Erloschenen und an den Tempelruinen vorbei zu einer Stelle, an der mehrere Wälle sich zu einer Ringmauer vereinigt hatten; einen Turm gab es indes nicht. Die Dächer dieser Strukturen waren bis zur Zentralsäule hochgezogen, und die Gitter verfügten über ›Fenster‹ aus Blättern, die geöffnet und geschlossen werden konnten. Die Menschen betraten den Tempel zunächst nur zögernd; doch als sie dann merkten, daß der Raum warm und behaglich war, kuschelten sie sich auf dem muldenförmigen Boden in die Schlafsäcke. Fürs erste waren sie in Sicherheit.
Alle wußten, daß sich etwas ereignete, nur daß die meisten nicht wußten, was los war. Einige Leute indes wußten Bescheid: Dern Blass. Spiggy, der mit dem Rücken an einem Bogen saß und dem Regen lauschte, der auf das ›falsche‹ Reetdach prasselte. Zilia, die ein ängstliches Baby in den Armen wiegte. Jamice, die auf dem Pseudo-Teppich hockte und meditativ ein phansurisches Geisterstäbchen zwischen den Fingern drehte. China, die schwer atmend hinter der Trennwand lag, die Africa improvisiert hatte. Sal und Harribon, die händchenhaltend nebeneinander saßen. Jeder von ihnen, wie auch die übrigen Siedler, verspürte eine geistige Leere, weniger ein Loch als eine weiße Leinwand, die darauf wartete, beschriftet zu werden. Die Leinwand schirmte den Ort von dem Schrecken ab. Hier waren sie sicher. Die Leute wußten das und waren dankbar dafür. Sie konzentrierten sich auf die Leere. Hier würden die finalen Worte erscheinen. Entweder würden die Götter ihnen den Weg zum Überleben weisen, oder die Götter würden ihnen beim Sterben helfen. Die Götter wußten indes selbst noch nicht, wie sie sich entscheiden sollten. So etwas hatten sie noch nie zuvor getan. Die Götter wußten weder, ob es funktionieren würde, noch, ob sie genug Zeit haben würden. Was auch immer geschah, das Ergebnis würde auf dieser Leinwand verkündet werden.
»Man müßte irgend etwas unternehmen«, sagte Harribon.
Sal schaute ihn an, und er wurde rot. Das war nur eine Floskel gewesen. Es gab nichts, was er oder die anderen hätten tun können. Dennoch gab es hier und da jemanden, meistens war es ein Mann, der sagte: »Man müßte irgend etwas unternehmen.«
Ein wuchtiger Donnerschlag ertönte. Samstag und Jep befanden sich mit einem Dutzend Leute am Eingang und versuchten, etwas zu erkennen. Sie sahen einige der hohen Schornsteine, die immer wieder vom Blitz getroffen wurden. Flammen züngelten an den Türmen hinab. Dann blitzte es auf, eine Rauchwolke stieg auf, und sie hörten einen rollenden Donner.
»Sehen Sie sich das an«, rief Jep Theor Close zu. »Sie werden wie Kanonen abgefeuert!« Kanonen waren ihm durchaus ein Begriff. Er hatte sie schon in alten Dramen gesehen.
Theor lief zum Ausgang. Mit Sicherheit hatten die gigantischen Rohre irgend etwas abgefeuert. Hoch über der Abbruchkante des Hochplateaus explodierten die Geschosse und erhellten den nächtlichen Himmel. Grüne Blitze zuckten durch den Rauch. Samstag rannte los, um ihre Mutter zu informieren.
»Was geht da vor?« fragte China keuchend.
»Die Türme haben etwas abgefeuert«, sagte Africa. »Wie große Kanonen. Sie haben etwas in die Luft geschossen.«
»Sie haben das MMH als Treibsatz verwendet«, murmelte China. »Wie ist die Ladung gezündet worden?«
»Durch Blitze«, sagte ihre Schwester. »Die Blitze schlagen in der Turmspitze ein und laufen dann an der Seite hinab, als ob unten ein Zünder wäre.«
»Vielleicht ist das auch so«, sagte China keuchend. »Eine Art Zündschnur aus sauerstoffreichem Gewebe; vielleicht ist das Gewebe selbst auch mit dem Brennstoff durchtränkt.«
»Woraus bestehen die Geschosse? Aus Samen?«
»Sporenbehälter«, murmelte China. »Nehme ich zumindest an.« Dann verstummte sie, und sie und der Sanitäter versuchten einem sichtlich widerstrebenden Kind auf die Welt zu helfen, das vielleicht nicht einmal den ersten Tag überleben würde.
* * *
Nachdem der letzte Mitarbeiter der Zentralverwaltung in Richtung Hochland aufgebrochen war, waren die Baidee-Sträflinge auf sich allein gestellt. Dern Blass hatte sie mit folgenden Worten entlassen:
»Ihr seid frei. Durch denselben Transmitter, durch den ihr gekommen seid, könnt ihr wieder nach
Weitere Kostenlose Bücher