Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Monströse Welten 3: Toleranz

Monströse Welten 3: Toleranz

Titel: Monströse Welten 3: Toleranz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sheri S. Tepper
Vom Netzwerk:
Päckchen mit Proviant und Getränken waren neben ihm aufgebaut, und es lag auf einer Matte. Man hatte dafür gesorgt, daß das Kind es bequem hatte und überlebte. Der Proviant und die Getränke waren nicht angerührt. Alles sprach dafür, daß das Kind in Molock an Bord gebracht worden war.
    Zasper Ertigon wäre eigentlich verpflichtet gewesen, nach Molock zurückzufliegen und das Kind den Wachen zu übergeben. Doch stand er für eine Weile da und betrachtete die sich hebende und senkende Brust, hörte den leisen Atem, immer wieder. Das Kind war ein gutaussehender kleiner Bursche, dunkelhaarig und mit sandfarbenem Teint. Er hatte die für Kleinkinder typischen langen Wimpern, die den Augen diesen verletzlichen Ausdruck verliehen. Zasper ging zurück in den Steuerraum und wendete das Schiff.
    Bald drang das Glühen der Stadt zu ihm hinauf, wobei der Feuerschein der Kochstellen von einer dicht über dem Gleiter hängenden Rauch- und Wolkendecke reflektiert wurde. Direkt in Flugrichtung ragte die Tempelpyramide mit ihrer breiten Zeremonial-Plattform, die wie eine herausgestreckte Zunge aus der Helligkeit ragte. Zu dieser Nachtzeit war der Tempelkomplex verlassen. Etwas unsicher landete Zasper das Schiff auf der Plattform (er besaß eben kein fliegerisches Talent), stieg aus und überschaute die rauchige Stadt.
    Die Pflichten eines Beauftragten führten ihn hin und wieder nach Molock. Er hatte den Tempel von Molock schon gesehen, wenn auch nicht aus unmittelbarer Nähe, und was er nicht gesehen hatte, hatte er gehört. Nach kurzem Zögern bewältigte er die zur Spitze führende Treppenflucht, wo der ebene, aus Steinplatten bestehende Gipfel nur ein paar Meter unter einer feuerroten Rauchwolke zu hängen schien. Der Raum dazwischen war mit einem blutigen Glühen erfüllt.
    Er wollte sehen, ob es wirklich so war, wie er gehört hatte, und es war so – keine zehn Schritte vom oberen Treppenabsatz entfernt. Im Mittelpunkt des steinernen Platzes befand sich ein eisernes Gestell mit gewellten Stangen, zehn breit, zehn tief, zehn hoch. Auf jeder Stange steckte ein Schädel, tausend Schädel, alles kleine Schädel, alle von kleinen Kindern.
    Die zehn Schädel aus der hintersten Reihe der obersten Lage waren auf dem blutbefleckten Altar zwischen zwei steinernen Mäulern aufgereiht worden. Zweimal im Jahr wurden die ältesten Schädel zerstampft und das Pulver an die Gläubigen verteilt, um die Fruchtbarkeit der Felder, Herden, Männer und Frauen von Molock zu gewährleisten. Untermalt vom Lärm der Trommeln und dem Kreischen der Flöten wurden die übrigen Schädel eine Reihe versetzt, und zwölf kleine Jungen wurden an den Seiten des Gestells in Käfigen aufgehängt, um vor den Augen ihrer Eltern qualvoll zu verhungern und zu verdursten; die Eltern wurden gefesselt und vor den Augen ihrer Söhne mit Nahrung und Wasser versorgt. Die ersten zehn, die starben, kamen ins Regal. Die letzten zwei wurden an die Eltern zurückgegeben, wobei manche sogar überlebten. In regelmäßigen Abständen wurden zehn Schädel entfernt und durch zehn frisch abgeschlagene ersetzt.
    Zasper zählte die Schädel, als ob der Akt des Zählens etwas am Ergebnis ändern würde. Er hatte gleich nach der Einführung des Ritus davon gehört und es zunächst als Hirngespinst abgetan, das ihm einen Besuch in Molock verleiden sollte. Damals hatte er sich geweigert, Einzelheiten zur Kenntnis zu nehmen, doch nun wurde er so eindringlich damit konfrontiert, daß er es nicht mehr ignorieren konnte. Um in der kurzen Zeit seit der Einführung des Ritus tausend Schädel anzuhäufen, mußte die Anzahl der anfangs geopferten Kinder die heutige Zahl weit übertroffen haben, und die war schon hoch genug. Offensichtlich hatte jemand das Kind nur aus einem Grund im Laderaum versteckt: um ihm ein solches Ende zu ersparen.
    Er schaute den Schädeln in die Augen, und sie schienen den Blick zu erwidern. Ein paar der untersten waren noch mit Haut- und Haarresten behaftet. Dazwischen krümmte sich etwas und klatschte mit einem ekligen Geräusch auf die Steine.
    Molock. Kategorie Vier. Barbarisch. Und der Tempel. Den Zasper zu verteidigen geschworen hatte, oder zumindest hatte er geschworen, jegliche Beeinträchtigung seiner Funktionalität zu unterbinden. Er war Rats-Beauftragter. Sein Eid und die Eide seiner Kollegen waren alles, was zwischen der Vielfalt stand, durch die die Menschheit definiert wird und dem Verlust der Menschlichkeit selbst. Kulturelle Relativität. Die

Weitere Kostenlose Bücher