Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
fiel, lange, muskulöse Beine, grobe Wanderschuhe. Ein Halstuch. Sie las das Datum auf der Rückseite des Fotos; er war siebzehn. Das zweite Foto zeigte sie beide, sie und ihn, in einem Park in London. Im Hintergrund sah man Menschen in Liegestühlen, die lasen oder vor sich hin dösten. Sie musste etwas sechs Jahre alt sein und schaute zu dem Mann auf, der ihr einen Baum zeigte. Sie, ganz klein, mit zwei blonden Zöpfen, er riesengroß, in Tweed. Sie lebten im Palast, in der Wohnung des Lord Chamberlain. Er ging mit ihr in den Hyde Park, um ihr die Namen der Bäume und Blumen beizubringen; sie beobachteten die Eichhörnchen. Eines Tages hatten sie zwei Boxer gesehen, die hinter einem Eichhörnchen herjagten und es an einem Zaun in die Enge trieben, und während der eine ihm den Weg abschnitt, zerfleischte der zweite ihm die Kehle.
Shirley war von der Gewalt, die diese Szene ausstrahlte, fasziniert gewesen. Sie hatte einen langen Schauer gespürt, der ihre Beine hochjagte, in ihrem Bauch einen Looping drehte und schließlich in einem Feuerball explodierte. Sie hatte die Augen geschlossen, damit dieses herrliche Gefühl noch länger anhielt. Ihr Vater zog sie an der Hand weg und verbot ihr hinzusehen. Die Leute empörten sich und beschimpften den Besitzer. Er zuckte mit den Achseln und rief nach seinen Hunden, die das Eichhörnchen in Stücke rissen, ohne ihn zu beachten.
Jedes Mal, wenn ihr Vater mit ihr in den Park ging, beobachtete sie gespannt die herumlaufenden Hunde und hoffte auf eine neuerliche Hatz.
Und dann war da noch ein blauer Brief in einem schmalen, himmelblauen Umschlag gewesen.
Adressiert an Shirley Ward bei Mrs. Howell, Edinburgh.
Sie hatte die Schrift ihres Vaters wiedererkannt. Groß, rund, beinahe feminin.
Sie war lange reglos sitzen geblieben, ehe sie den Umschlag geöffnet hatte. Sie ahnte, dass sie ein Geheimnis in Händen hielt. Den Schlüssel zu ihrem eigenen Geheimnis. Sie hatte den Umschlag genommen und war in die Küche gegangen, um sich eine frische Tasse Tee zu machen, und während sie die Teekanne heiß ausspülte, hatte sie die Augen geschlossen und den Geist ihres Vaters heraufbeschworen. Die Jacke aus grobem, kratzigem Tuch, an die sie ihre Wange schmiegte, wenn er sie in den Armen hielt, den Geruch seiner Seife und des Eau de Toilette von Yardley, das er morgens nach dem Rasieren benutzte. Sie drückte den Kopf an seine Schulter. Erfand tausend Gefahren. Männer, die sie bedrohten, sie entführten, sie knebelten, sie misshandelten, sie in den Staub warfen. Sie gab vor zu weinen, er verstärkte seine Umarmung, und sie schloss die Augen.
Sie trank einen Schluck heißen Tee und öffnete den Umschlag. Der Brief war kurz nach ihrer Abreise nach Schottland geschrieben worden.
»Mein geliebtes kleines Mädchen,
ich habe dich nicht nach Edinburgh geschickt, um dich zu bestrafen. Ich habe nicht das Recht, dich zu bestrafen. Ich bin verantwortlich dafür, dass du seit deiner Geburt ein sehr eigenartiges Leben führst. Ein Leben, an dem ich allein die Schuld trage. Ich verstehe deinen Zorn, aber ich kann dir nicht erlauben, eine Person in Gefahr zu bringen, die dich zärtlich liebt …«
Er sprach von ihrer Mutter, die er nicht zu nennen wagte. Sogar beim Schreiben schüchterte ihn der Schatten ihrer Mutter ein. Sie hatte ein erstes Schluchzen unterdrückt.
»Wir haben ein eigenartiges Leben geführt, du und ich.«
Diesen Satz hatte er durchgestrichen. Wahrscheinlich hatte er geglaubt, sich zu wiederholen.
»Du warst ein wunderbares kleines Mädchen, und du bist zu einem bemerkenswerten jungen Mädchen herangewachsen. Ich bin stolz auf dich.«
Dann folgte eine größere Lücke. Er hatte ein paar Zeilen freigelassen. Als hätte er vorgehabt, sie später zu füllen. Ein Stück weiter unten hatte er weitergeschrieben.
»Ich möchte dir so vieles sagen, aber ich weiß nicht …
Wie soll ich dir etwas erklären, was ich selbst nicht verstehe?«
Wieder folgte eine Lücke.
Und dann diese schlichten Worte …
»Aber du sollst wissen, dass du mein geliebtes kleines Mädchen warst, bist und es immer sein wirst. Das kleine Mädchen, das ich in den Armen trug, wenn wir sonntagsabends von unseren Ausflügen aufs Land zurückkamen … Diese Momente liebte ich so sehr …«
Und die Erinnerung brach wie eine Lawine über sie herein.
Sie war noch klein, sie kehrten von einem der Landsitze der Königin zurück; sie lag in eine Reisedecke gewickelt auf der Rückbank des Autos. Sie
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