Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
Arbeit kam, hustete sie Jutefasern aus und konnte nichts essen. Als ihr Bruder sich in London niedergelassen hatte, war sie zu ihm gezogen. Sie war seine ältere Schwester, sie musste sich um ihn kümmern. Er hatte studiert. Anschließend war er in eines der Leibregimenter der Königin, die Coldstream Guards, eingetreten. Anfangs war er in London stationiert gewesen, doch später hatte man ihn ins Ausland geschickt. Er hatte sich bei verschiedenen Kampfeinsätzen ausgezeichnet und sich den Ruf eines ehrlichen, verlässlichen und vertrauenswürdigen Mannes erworben. So war er in den Palastdienst gekommen und zum Privatsekretär der Queen geworden, dem Principal Private Secretary . Er war die Hoffnung und der ganze Stolz der Familie. Eleonore hatte Arbeit in einer anderen Fabrik gefunden, einer Näherei in Mile End. Sie arbeitete den ganzen Tag, und abends besorgte sie den Haushalt, kochte, wusch, bügelte. Als er in den Palast gezogen war, war sie in London geblieben. Sie wollte nicht zurück zu ihrer Familie. Sie hatte sich daran gewöhnt, allein zu leben. Er besuchte sie sonntags. Sie tranken Tee und lauschten dem Pendel der großen Standuhr. Er hatte hart dafür arbeiten müssen, mit dem Palastumfeld zu verschmelzen, hatte seinen Akzent abgelegt, seine schroffen Manieren verfeinert, hatte lernen müssen, die Etikette zu befolgen, sich zu verneigen.
»Ich finde es sehr gut, dass sie Kameras bei den Leuten zu Hause aufhängen! Wer nichts zu verbergen hat, hat ja auch nichts zu befürchten.«
»Aber das ist doch ungeheuerlich!«
»Das sagst du, weil du in einer feinen Gegend wohnst, weil du keine Angst haben musst, wenn du mit deinem Einkaufsnetz voller Lebensmittel nach Hause kommst! Wir hier sind alle dafür … Nur die Reichen haben’s da mal wieder mit der Moral!«
Shirley beschloss, nicht weiter darüber zu diskutieren. Bei ihrem letzten Besuch hatten sie sich gestritten. Shirley hatte behauptet, ihr Vater sei Lord Chamberlain gewesen, ihre Tante hatte darauf erwidert, er sei doch bloß ein Privatsekretär gewesen. Ein Lakai, nicht mehr und nicht weniger! Man habe ihn wegen seines Gehorsams für diesen Posten ausgewählt. Wenn ich nur daran denke, dass ich mich für einen gehorsamen Mann abgerackert habe! Von gehorsam zu gefügig ist es nicht mehr weit!, hatte sie, den Blick starr auf die Teekanne gerichtet, geschimpft und die Hände wie eine Schale um die Tülle gelegt, aus Angst, sie könne tropfen und einen Fleck auf ihre Tischdecke machen.
»Papa war nicht gefügig, er war höflich und diskret!«, hatte Shirley protestiert.
»Ein Lakai! Ich hatte die Kraft, ich hatte den nötigen Biss! Aber mir hat ja keiner ein Studium bezahlt! Weil ich ein Mädchen war und Mädchen zu meiner Zeit nichts galten! Und was hat er aus seinem jahrelangen Studium gemacht? Na? Ein Diener ist er geworden! Was für eine Karriere!«
»Das stimmt nicht, das stimmt nicht«, hatte Shirley wiederholt, »er war der Lord Chamberlain, und alle haben ihn respektiert …«
Schließlich hatten sie beide schmollend dagesessen und eine bescheuerte Sendung im Fernsehen geschaut, und als Shirley gegangen war, hatte ihre Tante ihr die Wange hingehalten, ohne aufzustehen.
Eleonore bot ihr eine Tasse Tee und Kekse an; sie setzten sich an den Tisch. Sie erkundigte sich nach Gary. Sagte, es sei gut, dass die Jungen reisen, denn das Leben ging so schnell vorbei, und irgendwann saß man dann in einem Rattenloch mit betoniertem Garten.
»Danke für den Brief und die Fotos …«
Eleonore hob eine Hand über den Kopf, als wäre das nicht der Rede wert.
»Ich dachte mir, du könntest mehr damit anfangen als ich …«
»Sie kamen zu einem Zeitpunkt, als ich mir viele Fragen stellte …«
»Du kennst nicht zufällig eine gute Pediküre? Meine Füße bringen mich noch um … ich halte es nur noch in Pantoffeln aus!«
Das Zimmer lag im Dunkeln. Eleonore stand auf, um das Licht einzuschalten. Shirley bat sie, ihr von ihrem Vater zu erzählen. Bitte, Eleonore, es ist wichtig.
Sie antwortete, dass sie nicht viel wisse, er sei kein Mann gewesen, der sich anderen anvertraute.
»Und du im Übrigen auch nicht … Es war, als hätte jeder von euch beiden sein eigenes kleines Geheimnis, das ihr verbissen hütet. Ihr wart reserviert. Oder ich war euch nicht gut genug …«
Shirley ließ nicht locker.
»Was meinst du mit ›reserviert‹ und ›kleines Geheimnis‹?«
Eleonore seufzte, das sei kompliziert. Solche Dinge zu erklären, sei kompliziert …
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