Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
nahm, mit ihr durch die langen Palastflure ging, die Tür eintrat, sich im Zimmer seiner Geliebten aufbaute, der Mutter seines Kindes, und dass er ihr sagte, sie hat Hunger, ihr ist kalt, kümmere dich um sie … Sie ist auch deine Tochter.
Doch das tat er nicht.
Er kniete nieder, neigte den Kopf, trocknete ihre Füße, küsste ihre Füße, rückte sie näher ans Feuer heran. Legte eine Hand auf ihre Beine …
Seine Hand, von der sie jeden Zentimeter, jede Schwiele, jeden Nagel inniglich liebte, seine Hand, die ihr Haar streichelte, sie in die Ohren zwickte, wieder und wieder über ihre Stirn strich, um zu prüfen, ob sie Fieber hatte.
Sie hatte einen Abscheu gegen Zärtlichkeit und Freundlichkeit entwickelt, hatte diese Eigenschaften mit Feigheit gleichgesetzt und sich vulgären Rüpeln an den Hals geworfen.
Und ihr Verlangen war erwacht, entstellt von diesem Bild eines sich verneigenden Vaters.
Sie traf sich mit Männern, als zöge sie in den Krieg, leichten Herzens, freizügig, von diesem Verlangen getragen, das nur flüchtigen Sex, Sex wie unter Räubern erlaubte.
Sie hatte ihre Tante Eleonore besucht.
Zwischen Eleonore und ihr hatte immer eine dumpfe Spannung geherrscht, wie das hartnäckige Surren einer fetten Fliege.
Eleonore Ward war eine kräftige Frau mit Walkürenbusen und einem groben, von geplatzten Äderchen geröteten Gesicht. Sie hatte ihr Leben lang in der Fabrik gearbeitet. Hatte nie geheiratet. »Mir ist nie die passende Gelegenheit über den Weg gelaufen«, sagte sie immer seufzend. Wenn sie Weihnachten zusammen verbrachten, musterte sie sie und ihren Vater unwirsch, sagte, sie seien zu gelackt, wüssten nicht, was es bedeute, am Fließband zu stehen, in der stinkenden Luft, wüssten nichts von dem beißenden Geruch, der in der Kehle brennt, von dem ohrenbetäubenden Lärm und den Augen, die von selbst zufallen. Jeder Tag ist gleich, man weiß nicht, ob Montag, Dienstag, Mittwoch oder Donnerstag ist. Man ist einfach nur froh, wenn endlich der Freitag kommt, denn dann kann man den ganzen Samstag und den Sonntag durchschlafen.
Sie wohnte in Brixton, in Südlondon. In einem kleinen roten Backsteinhaus gegenüber einem Sozialblock. Sie hatte eine kleine Wohnung im Souterrain. Shirley besuchte sie nicht oft. Wenn sie eine Weile in diesem düsteren Untergeschoss verbracht hatte, war ihr immer, als bekäme sie keine Luft mehr, und sie musste schnell, schnell wieder raus.
Sie ging die wenigen Stufen hinunter, zwischen den Mülltonnen und den recycling boxes hindurch, die von Getränkedosen, Kartons und Flaschen überquollen. Ein Paradies für Ratten, dachte sie und achtete darauf, wo sie hintrat.
Eleonore öffnete ihr die Tür. Sie hatte weißes, an den Spitzen gelbliches Haar, das sie mit Nadeln festgesteckt hatte und das wie die Zweige eines Weihnachtsbaums abstand. Sie trug ein grünes Kleid, eine zitronengelbe Strickjacke, der man das Acryl von Weitem ansah, und eine Brille, die von einem Pflaster zusammengehalten wurde. Die Vorderseite der Strickjacke wies mehrere Zigarettenlöcher auf.
Shirley betrat die Wohnung durch eine kleine Küche, die in ein Wohnzimmer führte. Hinter den Fenstern bemerkte sie einen Garten. Sie wollte freundlich sein und sagte: »So ein Garten ist wirklich angenehm …«
»Das ist kein Garten, sie haben den Boden betoniert, damit keine Feuchtigkeit eindringt …«
Eleonore rieb sich die Nase und fügte hinzu: »Nett von dir, dass du mich besuchen kommst … Ich gehe nicht mehr oft vor die Tür. Ich bin wie die alten Leute, ich habe Angst. Wusstest du, dass sie mittlerweile schon innerhalb der Wohnungen Kameras aufhängen? Videoüberwachung … Um zukünftige Terroristen aufzuspüren …«
»Ich finde das ungeheuerlich, wir schaffen eine orwellsche Gesellschaft …«
»Was soll das denn sein?«
»George Orwell … Er hat einen Roman geschrieben, in dem er schildert, wozu es führen kann, wenn wir überall Überwachungskameras installieren …«
Eleonore zuckte mit den Schultern, als sie das Wort »Roman« hörte.
»Ich hatte vergessen, dass du eine Intellektuelle bist!«
»Ich bin keine Intellektuelle!«
»Du solltest dich mal reden hören!«
Eleonore war mit vierzehn von der Schule abgegangen. Sie hatte eine Stelle in der Jutefabrik in Dundee gefunden, der Heimatstadt ihrer Familie nördlich von Edinburgh. In ihrer Jugend fingen die Einwohner von Dundee in der Jutefabrik an oder zogen fort. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Wenn sie abends von der
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