Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
biss auf ihrem Stift herum und bat, rede mit mir, sag einfach irgendwas, dann fällt mir etwas ein, dann fällt mir bestimmt etwas ein … Er rezitierte für sie Verse von Byron, und seine sanfte Stimme und die behutsam gesprochenen englischen Worte verschmolzen zu einer eigenen Partitur, einer Melodie, die jene von Bach begleitete, sich mit den Noten verflocht, eine Viertelpause ausfüllte, sich an einen Akkord schmiegte. Er schloss die Augen, seine Hand lag auf Hortenses Schulter, Hortenses Bleistiftmine zerbrach, sie brauste auf, schleuderte ihren Block von sich, sagte, mir fällt nichts ein, mir fällt einfach nichts ein, und die Zeit läuft mir davon … Dir wird schon etwas einfallen, versprochen. Gute Ideen kommen einem immer erst, wenn es dringend wird. Am Abend bevor die grässliche Miss Farland anruft, wird es dir einfallen. Du wirst ahnungslos zu Bett gehen und morgens mit einem Geistesblitz aufwachen, vertrau mir, vertrau dir … Ängstlich und erschöpft sah sie zu ihm auf.
»Glaubst du wirklich? Ach, ich weiß nicht mehr, Gary … Es ist so schrecklich, ich zweifle. Ich hasse dieses Wort! Ich hasse es, so zu sein … Was, wenn ich es nicht schaffe?«
»Das würde deinem Lebensmotto widersprechen …«
»Und was ist mein Lebensmotto?«
»Mir allein vertraue ich.«
»Das wäre mir neu …«
Sie saugte an der Bleistiftmine und wandte sich wieder ihrer Zeichnung zu. Strich sich mit einer Hand durch das zerzauste Haar und stöhnte. Er dozierte weiter über die Kunst des Klavierspiels, die Kunst, die einzelnen Noten voneinander abzusetzen, sie zu isolieren, sie kühl und ungerührt zu entkleiden …
»Das solltest du tun: deine Ideen eine nach der anderen entkleiden; in deinem Kopf schwirren einfach zu viele herum, und du kannst nicht mehr klar denken …«
»Das funktioniert vielleicht beim Klavierspielen, aber nicht bei mir …«
»Natürlich, überleg doch mal: eine Note, dann noch eine Note und noch eine Note und nicht ein Kilo Noten auf einmal … Das ist der Unterschied!«
»Ach was, ich verstehe kein Wort von dem, was du da redest! Glaubst du wirklich, so hilfst du mir weiter …?«
»Ich helfe dir, ohne dass es dir bewusst ist. Komm her und küss mich, dann geht dir ein Licht auf …«
»Ich brauche keinen Mann, ich brauche eine Idee!«
»Ich bin dein Mann und alle deine Ideen. Weißt du was, liebste Hortense? Ohne mich bist du bloß ein kümmerliches Fragment …«
Joséphine und Shirley beobachteten sie wortlos und lächelten. Dann liefen sie in die Küche, schlossen die Tür hinter sich und fielen einander in die Arme.
»Sie lieben sich, sie lieben sich, auch wenn sie es selbst nicht wissen«, versicherte Joséphine.
»Sie sind wie zwei verliebte, blinde Eselchen …«
»Das endet unter einem großen weißen Schleier«, sang Joséphine vor sich hin.
»Oder mit einer wilden Kissenschlacht im Bett!«, spöttelte Shirley.
»Und wir werden zwei schöne Großmütter sein!«
»Aber ich werde trotzdem weitervögeln!«, protestierte Shirley.
»Sie sind so schön, unsere beiden Kleinen.«
»Und sie haben beide den gleichen Dickschädel!«
»In ihrem Alter war ich so linkisch.«
»Und ich hatte schon ein Kind …«
»Glaubst du, Hortense nimmt die Pille?«, fragte Joséphine besorgt.
»Du bist ihre Mutter …«
»Vielleicht sollte ich sie fragen …«
»Wenn du mich fragst, wird sie dich zum Teufel jagen!«
»Du hast recht … Glaub mir, einen Sohn zu haben, ist viel entspannter als zwei Töchter.«
»Sollen wir heute Abend die Gänseleberpastete essen?«
»Mit Feigenmarmelade?«
»O ja!«
»Was hältst du davon, wenn wir uns jetzt schon eine kleine Kostprobe gönnen? Niemand wird etwas davon erfahren!«, schlug Shirley mit einem naschlustigen Funkeln in den Augen vor.
»Und dazu trinken wir Champagner und erzählen uns Blödsinn?«
Der Korken knallte, der Schaum sprudelte über, Shirley rief nach einem Glas, schnell, schnell, Joséphine fing den Schaum mit einem Finger auf und leckte ihn ab.
»Weißt du, was ich gefunden habe, als ich neulich Abend die Mülltonnen durchsucht habe? Ein schwarzes Notizheft, ein Tagebuch …«
»Hmm …«, schnurrte Shirley, nachdem sie den Champagner gekostet hatte, »köstlich! Und wem gehört es?«
»Das ist es ja gerade, ich weiß es nicht …«
»Glaubst du, es wurde absichtlich weggeworfen?«
»Es sieht ganz danach aus … Es muss jemand aus dem Haus sein. Das Tagebuch ist alt. Es trägt ein Datum: November 1962 … Der Unbekannte
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