Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
schreibt, dass er siebzehn Jahre alt ist und sein Leben jetzt anfangen wird.«
»Das heißt, er wäre jetzt … warte kurz … um die fünfundsechzig! Nicht gerade ein Jungspund, unser mysteriöser Schriftsteller … Hast du es gelesen?«
»Ich habe angefangen … Aber ich lese weiter, sobald ich wieder allein bin …«
»Gibt es viele Männer um die fünfundsechzig in eurem Haus?«
»Es müssen etwa fünf oder sechs sein … Plus Monsieur Sandoz, Iphigénies Verehrer, der ihr zufolge bei seinem Alter schummelt und auch um die fünfundsechzig ist … Ich werde Nachforschungen anstellen. In beiden Gebäudeteilen, Haus A und Haus B, denn die Mülltonnen werden gemeinsam genutzt.«
»Das ist doch wirklich komisch«, lachte Shirley, »der einzige Platz, an dem sich die Leute bei euch über den Weg laufen, ist der Müllraum!«
Ungeduldig sehnte Zoé den 26. Dezember herbei. Sie hatte die Tage in ihrem Kalender umkreist und sprang jeden Morgen aus dem Bett, um einen davon durchzustreichen. Ich bin gestresst wie eine Kuh, wenn’s donnert! Noch zwei Tage! Eine Ewigkeit! Das halte ich niemals durch! Ich werde vorher sterben … Kann man innerhalb von zwei Tagen zweieinhalb Kilo abnehmen? Kann man einen Pickel ausradieren? Das Schwitzen abstellen? Richtig gut küssen lernen? Und meine Haare? Soll ich sie mit Gel glätten oder nicht? Sie zusammenbinden oder nicht? Es gibt so vieles, bei dem ich mir gern sicher wäre.
Und was soll ich überhaupt anziehen, wenn er kommt? So etwas muss man sich doch im Voraus überlegen … Ich könnte Hortense fragen, aber Hortense hat im Moment anderes im Kopf.
Hortense hatte eingewilligt, nachts die Anstandsdame zu spielen. »Aber ich will nicht von Kopulationsgeräuschen geweckt werden! Kapiert, Zoé? Ich muss am 2. Januar fit sein. Frisch und rosig. Und das heißt: ungestört schlafen. Und nicht den Kerkermeister spielen! Also kein Gefummel oder wildes Rumwälzen, sonst schlag ich zu!«
Zoé errötete. Sie brannte darauf, Hortense zu fragen, wie wildes Rumwälzen funktionierte und ob das wehtat.
Am 26. Dezember gegen siebzehn Uhr würde Gaétan an der Tür klingeln. Sechzehn Uhr achtzehn an der Gare Saint-Lazare, siebzehn Uhr bei ihnen. Niemandem außer ihr wäre es gestattet, ihm zu öffnen, und niemand außer ihr durfte sich blicken lassen, wenn er ankam. Alle in eure Zimmer oder ganz raus aus der Wohnung, bis ich euch ein Zeichen gebe, dass ihr wieder zum Vorschein kommen dürft! Es würde ihn zu sehr verunsichern, wenn ihr alle dasteht und ihn anstarrt.
Sie hatten lange darüber geredet, ob es ihm unangenehm sein würde, in das Haus zurückzukehren, in dem er früher gewohnt hatte. Gaétan hatte behauptet, nein, es mache ihm nichts aus. Er habe reiflich nachgedacht und seinem Vater verziehen. Er bedauere ihn aufrichtig. Er sagte das mit einer derart ernsten Stimme, dass Zoé das Gefühl hatte, mit einem Fremden zu reden. Verstehst du, Zoé, wenn man weiß, was er als Kind erlebt hat, wie er verstoßen, misshandelt, benutzt und gequält wurde, da konnte man ja kaum erwarten, dass er normal sein würde … Er hat versucht, normal zu sein, aber er konnte es nicht. Es war, als wäre er mit einem Klumpfuß geboren, und man hätte von ihm verlangt, hundert Meter in neun Sekunden zu laufen! In ihm war alles vermischt: Liebe, Wut, Rachedurst, Zorn, Unschuld. Er wollte töten, und er wollte lieben, aber er wusste nicht, wie er es anstellen sollte. Ich bin traurig wegen deiner Tante, aber seinetwegen bin ich nicht traurig. Ich weiß nicht, warum … Auf seine Weise hat er uns geliebt. Ich schaffe es nicht, ihm böse zu sein. Er war verrückt, das ist alles. Und ich werde nicht verrückt, das weiß ich genau.
Das wiederholte er oft: Und ich werde nicht verrückt …
Sie wartete in ihrem Zimmer und bastelte dabei ihre Geschenke aus Draht, Karton, Wolle, Leim, Pailletten und Farbe. Die Zeit verging schneller, wenn ihr Geist und ihre Hände beschäftigt waren. Sie konzentrierte sich darauf, die passende Farbe auszuwählen, eine Zeichnung auszuschneiden, einen Wollfaden festzukleben. Sie schmeckte an dem Leim, der auf ihrem Zeigefinger trocknete, biss sich auf die Unterlippe, als naschte sie eine Leckerei. Sie hörte das Klavier im Wohnzimmer und verstand, warum Gary diese Musik so sehr liebte. Sie lauschte den Noten, sie drangen in ihren Kopf ein, und sie spürte, wie sie in ihrem Inneren aufblühten. Die Musik saugte sie auf, es war magisch. Sie würde Gary bitten, ihr die CD s zu
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