Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
schauen. Und das ist Poppy, sie ist schon am längsten bei uns, seit … wie lange, Poppy?»
Poppy zuckte mit den Schultern. Immer schon, wollte sie sagen. Länger als du. Ressortleiter kamen und gingen und wurden immer jünger. Wie alle.
«Vermutlich länger, als du auf der Welt bist», grinste sie die junge Frau an. Sie war Anfang, Mitte zwanzig, schätzte Poppy, obwohl es ihr immer schwerer fiel, das Alter von jüngeren Leuten zu schätzen. Als ihre Kinder klein gewesen waren, hatte sie das Alter eines Säuglings auf den Monat genau erkannt. Diese Fähigkeit war ihr abhandengekommen, seit ihre Söhne nicht mehr bei ihr lebten. Auch Frauen ihres Alters konnte sie schwer einschätzen. Manchmal dachte Poppy, sie sei der älteste Mensch auf der Welt. Oder der jüngste. Sie erkannte ihr Spiegelbild nicht mehr, wenn sie ihm unverhofft entgegenkam. Gleichzeitig fühlte sie sich immer noch jeden Morgen so, als würde, als könnte alles wieder von vorn beginnen. Als hätte sie noch einmal eine Chance.
«Ich bin Audrey», sagte die junge Frau und schüttelte förmlich Poppys Hand. «Wie Hepburn», erklärte sie ernsthaft. «Meine Mutter hat ihre Filme geliebt. Manche Leute sagen, ich gleiche ihr.» Kokett wiegte sie sich in den Schultern, lächelte. Ein schmales Geschöpf mit dunklen Haaren. Sie trug Hotpants aus schwarzem Leder über schwarzen Strümpfen, flache Schuhe. Die dunklen Haare hatte sie zum Pferdeschwanz gebunden wie eine Prinzessin in Rom.
«Hat was», sagte Poppy freundlich, «kann ich durchaus sehen.»
«Also, Poppy, du kennst den Drill! Audrey, viel Spaß.» Andreas wandte sich zur Tür, im Gehen zog er sein Handy aus der Hosentasche, das hier unten keinen Empfang hatte. Sobald er den ersten Treppenabsatz erreicht haben würde, würden die Balken wieder aufleuchten, und Andreas hätte nichts verpasst. Das Archiv im Keller gehörte nicht mehr zum Alltag der Lokalzeitung, ebenso wenig wie Poppy selber. Als sie vor fast dreißig Jahren hier angefangen hatte, waren sie zu fünft gewesen. Sie hatten die Zeitungsseiten von Hand ausgeschnitten und auf große Blätter geklebt. Die Arbeit war einfach gewesen, aber sie hatte einen gewissen Ordnungssinn verlangt. Aufmerksamkeit. Genau das, was Poppy so schwerfiel. Immer wieder hatte sie wichtige Stichworte übersehen, Querverbindungen nicht hergestellt. Niemand hätte geglaubt, dass ausgerechnet sie sich am längsten von allen hier halten würde. Damals hatten sie alle Pläne gehabt. Einige studierten, andere widmeten sich ihrer Kunst. Sie nahmen die Arbeit nicht besonders ernst. Das Archiv der Lokalzeitung war ein Ort, an dem man anfing. An dem man das Studium unterbrach, sich das nötige Reisegeld verdiente. Poppy hatte Journalistin werden wollen. Reiseschriftstellerin. Auch Schauspielerin, Malerin, Musikerin.
Einer nach dem anderen war gegangen, wurde durch andere ersetzt, ein endloser Reigen von Menschen, die hier unten im Keller kurz verschnauften wie Wanderer auf einer anspruchsvollen Tour. Nach einigen Monaten machten sie sich wieder auf, wurden Künstler oder bekamen Kinder. Manche blieben bei der Zeitung, arbeiteten sich Stockwerk für Stockwerk in die Redaktion oder in die Bildredaktion hinauf. Eine Zeitlang grüßten sie Poppy noch, wenn sie ihr im Lift oder in der Cafeteria begegneten, dann hatten sie sie vergessen, sie und den fensterlosen Raum im Keller. Irgendwann waren sie zu dritt, dann zu zweit, sie zogen in kleinere Räume um. Nur Poppy war immer wieder zurückgekommen und schließlich ganz hängengeblieben.
Unterdessen war sie die Einzige hier unten, in einem fensterlosen Raum, in dem sich früher die Leserbriefredaktion befunden hatte. Auch die hatte sich aufgelöst. Poppys Funktion war mit «Mitarbeiterin Digitale Kommunikation» nur vage festgelegt. Jedes Mal, wenn Andreas eine neue Praktikantin herunterführte, schaute er sich um, als sähe er diesen Raum zum ersten Mal. Jedes Mal wirkte er erstaunt, Poppy hier anzutreffen. Erstaunt darüber, dass sie immer noch da war. Sollte er einmal fünf Minuten Zeit haben, um ernsthaft darüber nachzudenken, würde er Poppy, so fürchtete sie, ersatzlos streichen. Poppy wusste nicht, was sie dann tun würde. Sie hatte keine Träume mehr. Keine Pläne. Ihre Wanderkarte, falls sie je eine gehabt hatte, hatte sie längst verloren. Sie hatte nichts gelernt.
«Im Medientraining haben sie gesagt, ich hätte Starqualität. Die Kamera liebt mich. Meine Mutter wusste schon, was sie tat, als sie mich Audrey
Weitere Kostenlose Bücher