Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
Woche. Zusätzlich würde sie jeden Tag zwanzig Minuten an ihrem Vortrag arbeiten, den sie nächsten Monat halten musste.
Mein Hobby.
Poppy hatte keine Hobbys. Sie hatte verschiedene Instrumente ausprobiert, ohne bei einem zu bleiben. Sie trieb keinen Sport. Scharf geschossene Bälle schüchterten sie ein, Kletterstangen noch mehr.
«Du bist so ungelenk», sagte ihre Mutter und meldete sie zum Ballettunterricht an. Dort hätte es Poppy gut gefallen, die rosafarbenen Trikots, die weichen Schuhe mit dem Gummiband um den Rist, Poppy hielt ihren Fuß hoch und drehte ihn nach rechts und nach links, sie bewunderte ihren Fuß, es war ein echter Tanzfuß. Schon hatte sie vergessen, in die Knie zu gehen, plié, zwei, drei, vier, relevé!
Madame Fionas Bambusrute zischte durch die Luft und schlug hart gegen Poppys Knöchel. Madame Claire unterbrach ihr Klavierspiel. «Attention!», schrie Madame Fiona. Die anderen Mädchen kicherten und drehten sich zu Poppy um.
Trotzdem liebte sie den Ballettunterricht, vor allem, wenn sie eine Schrittfolge einübten und quer durch den großen Saal hüpften, zu zweit, zu dritt, auf den wandbreiten Spiegel zu, in ihn hinein und durch ihn hindurch. Poppy war ein Schmetterling, eine Blume, ein Sonnenstrahl – bis sie kopfvoran gegen die Scheibe prallte und auf ihrem Hintern landete.
Madame Fiona erklärte Poppy zum hoffnungslosen Fall und empfahl rhythmische Gymnastik. Dazu trug man schwarze Stoffschuhe mit Gummisohle. Poppy war bei den Pfadfinderinnen gewesen und in der christlichen Jugendgruppe, nirgends hatte sie es lange ausgehalten. Worüber sollte sie also ihren Vortrag halten?
Pillen schlucken. War das ein Hobby?
Als Poppy zwölf Jahre alt war, hatte ihre Mutter eine Psychoanalyse begonnen und war einer Selbsterfahrungsgruppe beigetreten. Seither weigerte sie sich, zu putzen und zu kochen, und auf ihrem Nachttisch stand, neben einem Stapel Bücher mit Titeln wie Die Scham ist vorbei , eine kleine braune Flasche voller grauer Pillen. Valium. Poppy hatte aus Neugier eine geschluckt. Zwanzig Minuten später hatte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben wohl gefühlt in ihrer Haut. Die kalte Hand in ihrem Nacken war weg. Das nagende Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben.
Poppy war zu einer Art Klassenclown geworden, einer Vorzeigerebellin. Irgendwo tief versteckt in den Falten ihres Selbst bewahrte Poppy ein Bild von sich, das sie als intelligente, fähige Schülerin zeigte, und war immer erstaunt, wenn sie eine schlechte Note schrieb. Niemand außer ihr schien dieses Bild zu sehen. Sie zweifelte nicht daran, dass sie das Gymnasium schaffen würde, und fiel aus allen Wolken, als sie eine Klasse wiederholen musste. Obwohl sie sämtliche Vorwarnungen bekommen hatte. Ihre Mutter war immer bereit, das Absenzenheft zu unterschreiben. Sie wollte Poppy nicht in eine bürgerliche Existenz zwingen, die ihr eigenes Leben zerstört hatte. Das war die Erkenntnis, die sie in ihren Gruppen gewonnen hatte: Die Ehe hatte sie an ihrer persönlichen Entfaltung gehindert, unter dem Joch von Haushalt und Kindererziehung war sie zerbrochen. Poppy sollte es einmal besser haben, sie sollte sich verwirklichen, sie sollte frei sein. Wenn Poppy sich gegen die Schule auflehnte, amüsierte sie nicht nur ihre Klassenkameraden, sie hatte auch zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Mutter auf ihrer Seite.
Dass sie sich heimlich nach einem bürgerlichen Leben sehnte, verriet sie niemandem, dass sie im Stillen ihre Mitschülerinnen um ihre Gelassenheit beneidete, um ihre sauber geführten Hefte, um ihre glänzenden braunen Haare. Poppy hatte angefangen, ihr Haar mit Henna zu färben, als sie dreizehn war, es wurde jedes Mal leuchtender, roter. Man sah nur noch das: ihr rotes Haar. Sie war das Mädchen mit dem Feuerhaar. Sie beneidete ihre Mitschülerinnen um ihre Eltern, die meist Akademiker waren, die die richtigen Bücher in ihren Regalen stehen hatten, die sie für ihre Hausaufgaben brauchten, um eine Übersetzung nachzuschlagen, eine Quelle zu finden, einen historischen Zusammenhang herzustellen. Eltern, die jeden Nachmittag fragten, wie es in der Schule gewesen war, was sie für Hausaufgaben hatten, und die sogar dabei helfen konnten. Poppy hatte versucht, sich diesen Mädchen anzuschließen, war auch von der einen oder anderen nach Hause eingeladen worden, hatte gesehen, wie es sein konnte.
Doch sie hatte nichts gemein mit diesen Mädchen, die Vorträge hielten über ihr Geigenspiel und ihre Pferde, ihr
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