Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
tropfte auf Poppys Schuhe. Ihre Brille hatte sich beschlagen. Grob riss die Mutter sie am Arm zurück und drehte den Wasserhahn zu.
«Geh in dein Zimmer», sagte sie. «Du machst mehr Arbeit, als du mir abnimmst!»
In ihrem Zimmer setzte sich Poppy an ihren Schreibtisch. Sie würde sich bessern. Sie würde ihr Zimmer aufräumen. Sie würde ihre Schulsachen ordnen, in Schubladen, jede Schublade würde sie beschriften: Rechnen. Sprache. Lebenskunde. Nichts würde mehr verlorengehen, nichts vergessen. Jeden Abend würde sie die Hausaufgaben erledigen – sie musste sich einen Plan machen. Was sie brauchte, war eine Korkwand, direkt über ihrem Schreibtisch, ihre Freundin Regine hatte so eine, da hingen, neben einem Foto von Bernhard Russi und einem von David Cassidy, ihr Stundenplan, Mitteilungen von der Schule über den Ausflug vor den Ferien, den Sporttag, die Lehrerfortbildung. Stecknadeln mit dicken runden Köpfen hielten die Mitteilungen fest, Regine hatte sie ständig vor Augen, sie wusste immer, welche Fächer am nächsten Tag drankamen, welche Aufgaben sie machen musste. Regine würde nie an einem Mittwoch als Einzige vor verschlossenen Schultüren stehen, weil sie vergessen hatte, dass an diesem Tag kein Unterricht stattfand, und sich dann nicht nach Hause trauen. Die Versuchung, nach Hause zu gehen, zurück ins warme Bett, zu ihrem Buch, war groß, aber sie wusste, wie sehr ihre Mutter schimpfen würde.
«Hast du eigentlich kein anderes Ziel, als mir das Leben schwerzumachen? Meinst du, ich finde es lustig, um sechs Uhr aufzustehen und Madame das Frühstück zu bereiten? Für nichts und wieder nichts?»
Poppy ging zu Regine, als hätten sie sich verabredet. Ihre Mutter glaubte sie in der Schule. Poppy hatte keine Geschwister. Sie hatte schon lange aufgehört, danach zu fragen. Einmal, ganz früh morgens, hatte sie gehört, wie ihre Eltern in der Küche stritten.
«Du wirst ja schon mit einem Kind nicht fertig», hatte der Vater gesagt. «Was willst du denn mit zweien?» Die Mutter hatte geweint, sie hätte sich noch mehr Kinder gewünscht, aber Poppy war zu schwierig, wenn Poppy nur nicht so schwierig wäre.Dabei gab sie sich jede Mühe. Jeden Abend fasste sie neue Vorsätze, jeden Tag scheiterte sie an der Umsetzung. Ihr Schreibtisch stand vor dem Fenster. Wenn Poppy eine Korkwand aufhängen wollte, musste sie den Tisch an die Wand schieben. Plötzlich schien die Korkwand die Lösung aller Probleme, das unverzichtbare Requisit für ihr neues Leben, in dem sie alles richtig machen würde. Poppy versuchte ihren Tisch zu ziehen, sie zerrte daran, eine der Schubladen rutschte heraus und fiel krachend auf den Teppichboden. Die Nachbarin von unten klingelte an der Tür und verlangte zu wissen, warum es die Schneiders nicht fertigbrachten, die gesetzlich vorgeschriebene Mittagsruhe von elf Uhr dreißig bis dreizehn Uhr dreißig einzuhalten. Und ausgerechnet während der Nachrichten! So ein Krach, man verstehe sein eigenes Wort nicht, und wenn jetzt der Krieg ausgebrochen wäre? Dann wüssten sie an der Rathausgasse 17 nichts davon, weil die Schneiders immer so einen Krach machten. Poppys Mutter entschuldigte sich. Dann kam sie in Poppys Zimmer ohne anzuklopfen, sah die Schreibtischschublade am Boden, die verstreuten Hefte, die herumliegenden Buntstifte, den halb vom Fenster weggezerrten Tisch. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sie schüttelte den Kopf.
«Du bringst mich noch ins Grab», sagte sie und ging aus dem Zimmer.
An diesem Nachmittag schloss Poppy sich ein. Sie fegte alles, was auf dem Schreibtisch lag, auf den Fußboden, Hefte, Papiere, Klebestifte, Scheren, dann kippte sie den Inhalt ihrer drei Schreibtischschubladen darüber. Sie zog den Ärmel ihres Plüschpullovers über ihre Hand und wischte damit über die Schreibtischplatte und in die Ecken der Schubladen. Mit Buntstift schrieb sie auf den Boden jeder Schublade, was hineinkommen solle.
Papier und Farbstifte. Bastelsachen. Schulzeug. In die oberste Schublade schrieb sie außerdem: Ich hasse die Berge und ich hasse meine Mutter!
Dann räumte sie die Schubladen wieder ein. Sie schob den Tisch wieder vor das Fenster – sie würde ihr Zimmer nicht umstellen, ihre Mutter nicht um eine Korkwand bitten. Aber wenn sie schon dabei war, konnte sie ihren Kleiderschrank ausräumen. Sie riss alle nachlässig gestapelten Pullover, Unterhemden, Socken heraus und legte alles neu zusammen. Dabei dachte sie zum ersten Mal: Mama ist nicht besser
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