Montana 04 - Vipernbrut
beugte sich eine dunkle Gestalt über sie, und als ihre Augen wieder klar sehen konnten, erkannte sie ihn, den Eismumienmörder.
»Hallo, Selena«, begrüßte er sie mit einem triumphierenden Lächeln.
Jon Oestergard? Ihr Hausmeister? Der Farmer? Ein verheirateter Mann, der …
»Du hattest wohl gedacht, du könntest mich austricksen«, sagte er mit dieser monotonen Stimme, die sie so nervend fand. »Ts, ts.«
Was um alles in der Welt hatte sie ihm getan?
Doch vermutlich war das ganz egal.
Ihr wurde wieder schwarz vor Augen. Am liebsten hätte sie sich der Bewusstlosigkeit ergeben, wo sie die Kälte nicht spüren musste, wo sie nicht an Gabe denken …
Gabe! Wo war er?
Sie zwang sich, die Augen offen zu halten, und versuchte, sich umzusehen. Ein riesiger Raum, eine Höhle … mit einer Werkbank und Deckenlichtern und … Wenn sie doch nur den Kopf drehen könnte!
»Dann bist du also wach. Gut.« Er lächelte jetzt nicht mehr; stattdessen sah er durch seine getönten Brillengläser auf sie hinab.
»Wo ist Gabe?«, presste sie hervor. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Der Junge? Oh, um den musst du dir keine Sorgen machen.«
Kling, Glöckchen, klingelingeling …
Gedankenverloren summte er das Weihnachtslied mit.
»Wo ist er?«, fauchte sie.
»Ich habe ihn dagelassen, was sonst? Mit deinem dämlichen Hund … « Seine Lippen verzogen sich zu einem abstoßenden Grinsen. »Damit wir beide ungestört sind.«
»Warum tun Sie das? Warum, Jon?«
»Ach, jetzt bin ich auf einmal Jon. Sonst hast du mich nie beim Namen genannt, du falsche Schlange.«
»Wie bitte?«
»Als ich dir im Lebensmittelladen geholfen habe, hast du so getan, als würde es mich gar nicht geben. Genau wie all die anderen. Falsche Schlangen. Allesamt. Vipernbrut.«
»Was für ein Lebensmittelladen? Wovon reden Sie überhaupt?«, fragte sie verwirrt.
Er goss noch mehr eisig kaltes Wasser über sie. Sie zuckte. Spürte einen brennenden Schmerz an ihrem Oberschenkel. Anders als den anderen Opfern hatte er ihr offenbar kein Betäubungsmittel verabreicht, wollte sie leiden sehen. Wollte sich ihr überlegen fühlen. Sie kontrollieren. Sie unterwerfen.
Gib ihm keine Macht über dich. Vermeide Fragen, mit denen er rechnen könnte. Zeig ihm deine Angst nicht.
»Wie denkt Ihre Frau darüber?«, fragte sie und sah, wie er zusammenzuckte. In diesem Augenblick sah sie das Blut. Ein Tropfen rann seinen Arm hinunter, als hätte eine ihrer Kugeln ihr Ziel getroffen. »Dorie? So heißt sie doch, oder? Macht sie auch hierbei mit?«
»Nein!«, schrie er, sein Gesicht eine Maske der Abscheu.
»Ach, Unsinn. Sie muss doch etwas ahnen.«
»Sie hat nichts damit zu tun.« Er holte tief Luft. »Außerdem ist das egal. Sie ist … tot.«
»Tot?«
»Er hat sie umgebracht!«, rief eine Frauenstimme. Das Monster riss den Kopf herum.
Es war noch jemand anders hier? Ach ja, richtig … sie hatte eine Frau weinen gehört … Langsam kam ihr Gehirn wieder in Schwung.
»Halt die Klappe, verdammt noch mal!«, brüllte Jon, doch die Frau beachtete ihn nicht.
»Er hat sie umgebracht und damit auch noch geprahlt! Hab ich recht, du elende Missgeburt?«
Er fuhr herum, ganz offensichtlich aus dem Konzept gebracht, und Alvarez wusste, dass das ihre einzige Chance war.
O’Keefe bog um eine letzte Kurve und sah den Jungen mit dem Gesicht im Schnee liegen, um seinen Kopf herum breitete sich eine Blutlache aus. Alvarez’ Outback stand mit laufendem Motor an der höchsten Stelle der Straße, seine Scheinwerfer zwei Lichtkegel in der Dunkelheit, doch er war leer. O’Keefe zog seine Waffe, hielt neben dem Jungen an und stieg vorsichtig aus dem Wagen.
Wo war Selena?
Nichts war zu sehen, weder von ihr noch von dem Eismumienmörder noch von einem weiteren Fahrzeug.
Sein Blick fiel auf einen Hund, der reglos im Schnee lag, aller Wahrscheinlichkeit nach Alvarez’ Roscoe.
Seine Augen schweiften suchend durch die Gegend, doch alles war stockdunkel, allein die Umrisse hoher Bäume, Hemlocktannen und Kiefern, waren zu erkennen. Geduckt hastete er auf den Jungen zu, jederzeit bereit zu schießen.
Bitte sei am Leben, Gabe. Bitte …
Er hatte einen Kugelhagel erwartet, doch alles blieb ruhig, fast zu ruhig, nichts war zu hören außer dem laufenden Motor des Explorers und seinem hämmernden Herzen.
Keine Selena … Nein, er würde jetzt nicht an sie denken, würde sich keine Vorwürfe machen, zu langsam gewesen zu sein, sie nicht schneller aufgespürt zu haben,
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