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Montauk: Eine Erzählung (German Edition)

Montauk: Eine Erzählung (German Edition)

Titel: Montauk: Eine Erzählung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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gehen, dann an den Schreibtisch. Je älter ich werde, um so weniger halte ich mich aus, wenn ich nicht arbeite. Ich schreibe: Erinnerungen an die Zeit beim Militär, eine Rede über die Heimat, einen Offenen Brief an den Bundesrat wegen der Flüchtlinge aus Chile. Wenn draußen die Sonne scheint, so sind die weißen Lamellen zu verstellen; dann blendet es nicht; eine milde Helle. Unser zweiter Winter in diesem Berlin, das zweite Frühjahr. Das Fest zu deinem Geburtstag ist gelungen; mein Schreibtisch als kaltes Buffet; so viele kluge Freunde und Tanz. Der Alltag mit Büchern, manchmal mit Blumen. Die Wohnung ist nicht überfüllt worden; keine Teppiche, ich höre Schritte auf dem Parkett (nicht nur Schuhe) im sogenannten Berliner Zimmer, dann weiß ich: Du kommst, um Guten Tag zu wünschen, barfuß –
     
    Was machen wir zusammen falsch?
     
    Auf dem Schiff nach Europa (der Kurs wird dieses Jahr eingestellt) spiele ich Schach viele Stunden am Tag. Du bist lieber allein auf Deck, vom Steward in Decken gepackt und allein in deinen Gedanken, oder wenn es auf Deck zu windig ist, lieber allein an der Bar. Ich spiele Schach gegen mich selbst; meistens verliere ich, das heißt, ich identifiziere mich mit der verlierenden Farbe, wenn es plötzlich zum Matt kommt, ohne Diskussion. Wenn ich mich auf die andere Seite des kleinen grünen Tisches setze, bevor die Entscheidung auf dem Brett gefallen ist, so bin wieder ich es, der verliert. Was ja einerlei ist! Ich habe nur nicht wissen können, woher das kommt.
     
    BUT WHERE ARE YOU TODAY? PROBABLY OUT WITH YOUR HUSBAND FOR A WALK... . DO YOU THINK HE HAS NOTICED? WHAT FOOLISHNESS! IT IS AS OBVIOUS AS A BUMPER STICKER, AS OBVIOUS AS AN ABDICATION... . I HAVE SPENT MANY MESSAGE UNITS SEEKING YOUR VOICE, BUT I ALWAYS GET FREDERICK INSTEAD. WELL, FREDERICK, I ASK CORDIALLY, WHAT AMAZING TRIUMPHS HAVE YOU ACCOMPLISHED TODAY ?
     
    Wie rasch Vergangenheit zustande kommt: – die Gestalt der jungen Fremden auf dem Pfad durch das Gestrüpp, OVERLOOK , das ist gestern gewesen.
     
    EXIT 35
     
    Er sieht die grünen Schilder.
     
    NO LEFT TURN
     
    Lynn liest.
     
    EXIT 29
     
    Hat er geschlafen inzwischen?
     
    MAX, YOU ARE A FORTUNATE MAN
     
    sagt Lynn, nachdem er, um nicht über Meilen hin zu schweigen, wieder einmal die Geschichte erzählt hat, wie ich das Gast-Apartment der Marlene Dietrich bekommen habe, 1963, eine wahre Geschichte zum leichten Lachen ... Er ist diese automatische Schaltung nicht gewohnt. Es ist kinderleicht; er fährt schon zwei Stunden oder länger, man sieht bereits die grauen Umrisse von Manhattan und wieder diesen endlosen Friedhof bei Queens, als sein linker Fuß vergessen hat: Keine Kupplung, das ist die Bremse, und es ist ein Glück, daß Lynn sich angeschnallt hat; ein zweites Glück, daß der Fahrer des nächsten Wagens grad noch ausscheren kann vor dem plötzlich gestoppten Ford ... Das wäre es: zwei Verkehrstote, eine junge Amerikanerin (die genauen Personalien) und ein älterer Schweizer (die genauen Personalien), ihr Wochenende an der Küste wäre erzählbar, unser Wochenende.
     
    Jetzt fährt wieder Lynn.
     
    Er sitzt schweigsam, etwas erschreckt: WENN DU DIE KINDER UNSERER BESTEN FREUNDE UND IHREN KLEINEN HUND NICHT MEHR VERTRÄGST, SO KÖNNEN WIR GLEICH IN EIN ALTERSHEIM EINZIEHEN ! und wenige Sekunden später bekommt sie recht: ich überfahre die Bundesallee (Berlin) bei Rotlicht.
     
    Es ist immer noch Sonntag.
     
    Die jüdische Braut aus Berlin (zur Hitler-Zeit) heißt nicht HANNA , sondern Käte, und sie gleichen sich überhaupt nicht, das Mädchen in meiner Lebensgeschichte und die Figur in einem Roman, den er geschrieben hat. Gemeinsam haben sie nur die historische Situation und in dieser Situation einen jungen Mann, der später über sein Verhalten nicht ins klare kommt; der Rest ist Kunst, Kunst der Diskretion sich selbst gegenüber ... Wie ist es wirklich gewesen? – es ist merkwürdig, wo es mir gelegentlich einfällt: am Bahnhof Friedrichstraße, wenn ich den DDR-Beamten meinen Paß vorlege und sehe, wie sie mich mustern, ihre Miene dabei. Ich verwechsle sie nicht mit dem Nazi-Beamten, der am Badischen Bahnhof in Basel, 1937, mich mustert: JOURNALIST ? und nachdem ich nicht ohne jugendlichen Berufsstolz genickt habe: UND DIESE JÜDIN LIEFERT IHNEN ALSO DIE GREUELGESCHICHTEN ! Ich beschwöre sie auf dem Bahnsteig: Fahrnicht nach Deutschland zurück! Sie will aber; ihre Eltern sind in Berlin. Ich halte sie noch auf dem Trittbrett:

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