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Montauk: Eine Erzählung (German Edition)

Montauk: Eine Erzählung (German Edition)

Titel: Montauk: Eine Erzählung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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sein, wenn sie krank bleibt. Was hat der Arzt denn gefunden? Sie sieht erbarmenswürdig aus. Was sonst, außer viel Ruhe und Diät, hat der Arzt verordnet? Keine Besuche; sein Besuch vor allem wird ihr schaden. Man könnte Arm in Arm gehen, damit beide unter dem Schirm sind. Er weiß nicht, woher er diesen Gang schon kennt, diese Stunde. Was reden? Wie schweigen? Er ist zerstreut; drei Stunden vor dem Flug. Er werde seine Adresse mitteilen usw. Er erinnert sich, ja, früher hat sie einmal von einem älteren Mann erzählt, den sie in Wien gesehen hat, aber nicht gesprochen; wahrscheinlich Jude; sie verstanden einanderin einem einzigen Blick, so schien es ihr, und sie floh wie vor einem Schicksal. Es ist rätselhaft: dieser Fremde ist dagewesen, ja, in der Klinik. Zufällig. Sie haben sich im Korridor wiedererkannt; dann hat er mit ihr auch diesen Spaziergang gemacht. Sie sagt aber seinen Namen nicht, auch sonst nicht viel. Alles sehr rätselvoll. Von diesem Fremden also kommen täglich die Blumen, immer die gleichen: 35 Rosen. So sagt sie, und er glaubt es gerne; sie wird, wenn er weggeht, nicht allein sein. Und Du, sagt sie ein halbes Jahr später in Rom, bist nach Amerika geflogen, als ich in der Klinik lag, und hast mich nicht nach Amerika gerufen. Du hast nicht einmal verstanden, daß ich mir diese Blumen selber geschickt habe, damit Du mich rufst.
     
    CHECK OUT
     
    denn was sollen sie nach dem Frühstück machen. Spazieren mit Schirm? Pingpong? Man könnte auf der Loggia sitzen und schauen, wie es ins Meer regnet ... Dann irritiert es ihn, daß Lynn, da sie die Reservation besorgt hat, ungefähr weiß, was er da bezahlt für zwei Übernachtungen. Sie sitzt schon im Wagen. Er zahlt fast das Doppelte ihres Wochenlohnes: Männergeld, das unter ehelichen Umständen so selbstverständlich wird ... Wenn er Lynn von der Seite anschaut (nie ganz ohne Vorwand; er gibt Feuer dabei oder tut, als müsse er die Landschaft gesehen haben, die Dünen, die Baracken, die Maste): Lynn am Steuer, Blick meistens gradaus, entweder hat er sich daran gewöhnt, daß ihre Lippen tagsüber spöttisch sind, oder ihre Lippen haben sich verändert. Ein Mal, vorgestern bei Tisch, ist Lynn verletzt gewesen. Warum? Wenigstens hat er es bemerkt und sie gefragt, er hat es aber nicht herausgefunden. Mißverständnis? Man fährt dieselbe Strecke zurück. Vermutlich hat auch sie etwas gebangt, dieses Wochenende könnte mißglücken. Jetzt ist es nicht mehr nötig, Bangnis zu überspielen. Es stellt sich heraus, daß er seinen Tabakbeutel verloren hat; Schweigen ohne Pfeife im Mund. Man weiß wenig voneinander und zuviel, um das Gespräch ganz spielerisch halten zu können. Noch weiß er nicht einmal, wo Lynn verletzlich ist und was zum ersten Zerwürfnis führen müßte. Übrigens scheint Lynn nicht mehr daran zu denken; ein Mal ist kein Mal. Er braucht eine Ehe, eine lange, um ein Monster zu werden.
     
    AMAGANNSETT
     
    heißt also der kleine Ort, wo er gestern beschlossen hat, dieses Wochenende zu erzählen: autobiographisch, ja, autobiographisch. Ohne Personnagen zu erfinden; ohne Ereignisse zu erfinden, die exemplarischer sind als seine Wirklichkeit; ohne auszuweichen in Erfindungen. Ohne seine Schriftstellerei zu rechtfertigen durch Verantwortung gegenüber der Gesellschaft; ohne Botschaft. Er hat keine und lebt trotzdem. Er möchte bloß erzählen (nicht ohne alle Rücksicht auf die Menschen, die er beim Namen nennt): sein Leben.
     
    ICH PROBIERE GESCHICHTEN AN WIE KLEIDER
     
    Immer öfter erschreckt mich irgendeine Erinnerung, meistens sind es Erinnerungen, die eigentlich nicht schrecklich sind; viel Bagatellen, nicht wert, daß ich sie erzähle in der Küche oder als Beifahrer. Es erschreckt mich nur die Entdeckung: Ich habe mir mein Leben verschwiegen. Ich habe irgendeine Öffentlichkeit bedient mit Geschichten. Ich habe mich in diesen Geschichten entblößt, ich weiß, bis zur Unkenntlichkeit. Ich lebe nicht mit der eignen Geschichte, nur mit Teilen davon, die ich habe literarisieren können. Es fehlen ganze Bezirke: der Vater, der Bruder, die Schwester. Im vergangenen Jahr ist meine Schwester gestorben. Ich bin betroffen gewesen, wieviel ich von ihr weiß; nichts davon habe ich je geschrieben. Es stimmt nicht einmal, daß ich immer nur mich selbst beschrieben habe. Ich habe mich selbst nie beschrieben. Ich habe mich nur verraten.
     
    MAX, WHAT IS YOUR STATE OF MIND ?
     
    fragt Lynn, weil es regnet ... Ein Zug von Trübsinn, den fast

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