Montauk: Eine Erzählung (German Edition)
jedes Foto zeigt, mißfällt mir seit eh und je. Das kommt von einer Lähmung der Augenlider, was zudem, ich weiß, einen Ausdruck von Suffisance ergibt. Die Lähmung der Augenlider kommt daher, daß ich als Bub, als ich die Masern hatte und im Halbdunkel liegen sollte, insgeheim mit Hilfe einer Taschenlampe stundenlang unter der Bettdecke gelesen habe, DON QUIXOTE . Später wurden die Augenlider behandelt zwei Mal wöchentlich; der Augenarzt stülpte die Lider auf und pinselte die Innseite mit einer braunen Tinktur, das tat weh, Quittung für Ungehorsam, es brannte höllisch, nachher mußte ich mit verbundenen Augen eine Stunde lang im Wartezimmer sitzen. Die Behandlung hat wenig geholfen. Diese Augenlider (als sei derBlick stets gesenkt: mißtrauisch, spöttisch) gehören zu meiner Physiognomie – ich habe als Schüler erfahren, wie sie den einen und andern Lehrer verdrossen hat: ein mäßiger Schüler und eine solche Arroganz. Ich habe nie genau gewußt, was dieses Wort heißt; etwas Schlechtes jedenfalls, etwas Verwerfliches. Setz dich! Das ist lang her; später heißt es nicht mehr: Setz dich! Die Physiognomie aber ist geblieben, ihre Wirkung; ich erfahre davon, wenn jemand bei näherer Bekanntschaft sich wundert, daß ich eigentlich nicht arrogant sei. Diese Entdeckung erleichtert den andern mehr als mich. Ich sehe daraus: ich muß auf der Hut sein, ich muß besonders bescheiden sein. Ein natürlicher Stolz, ausgesprochen mit dieser meiner Physiognomie, muß als Arroganz erscheinen. Also gebe ich mich jovial-bescheiden, und wenn der andere darauf nicht eingehen mag, so betreibe ich Selbstbezichtigung –
NO , sagt er, I AM FINE .
Der Regen verdrießt ihn nicht. Er ist froh um jede Gegenwart. Jetzt das Hin und Her der beiden Scheibenwischer. Er achtet auf alles, was grad zu sehen ist. Er will keine Memoiren. Er will den Augenblick. Die Landschaft, jetzt in diesem Augenblick, ist ziemlich öde; er schaut trotzdem. Er sieht ihren Fuß auf dem Gashebel, einen beschädigten Schuh, ihre rechte Hand am Steuer, eine schmale Hand, das Hin und Her der Scheibenwischer. Er vermißt nichts; er ist dankbar für dieses Wochenende, das noch nicht vergangen ist.
BRETAGNE :
Reise zu dritt im kleinen Morris, ich sitze die ganze Zeit hinten. Warum soll ich die Fahrfehler machen, die falsche Route vorschlagen? Ich sage nichts; keine Rüge, wenn sie sich verfährt: ORLY statt ORLEANS , kein Unglück, ein Umweg von einer Stunde, nur kann ich nichts dafür; das macht sie nervös. Ich bin ein Ekel, ich weiß; ich schaue in die Landschaft und brauche mich nicht zu bezichtigen, sondern rede (zum Beispiel) über Peter Handke, WUNSCHLOSES UNGLÜCK , ein Text, der mir Eindruck macht. Ihre Rügen, wenn ich am Steuer sitze, sind zuweilen berechtigt; ich brauche Urlaub, ich möchte drei Wochen lang keinen Fahrfehler machen, sondern Frankreich sehen. Ein französischer Gendarm, der mit strikter Mienekommt und ihren Ausweis verlangt, dann fragt, ob sie das Rotlicht nicht gesehen habe, erweist sich, nachdem er die Fahrerin besichtigt hat, als Kavalier: MADAME , sagt er ohne ein Zuviel an Charme, was die beiden Männer im Morris desavouieren könnte, und mit der Hand an seiner steifen Mütze: BON VOYAGE ! und wir kommen ans Meer, MONT SAINT MICHEL , bei Ebbe. Wanderung im Schlick weit auseinander. Schwierig für den lieben Freund, so denke ich, mit einem hundstraurigen Paar. LA DOUCE FRANCE . Ein Mittagessen, ein einfaches, aber köstlich; unser Freund, der Komponist, berichtet über die alten Kelten so klug wie über München. Nun möchte sie doch eine Zigarette, aber da sie eigentlich nicht mehr raucht, habe ich keine Zigaretten bei mir; sie fragt den Freund. Er greift in die Tasche und legt sein Päckchen hin, damit sie sich bediene. Das tut sie. Ich höre ihm zu. Ihr Blick zu mir: ob ich nicht sehe, daß sie auf Feuer wartet. Ich frage ihn, ob er Streichhölzer habe. Streichhölzer? Die habe er: in seiner linken oder rechten Manteltasche, sagt er, ohne sich ablenken zu lassen von seinem Teller, und ich brauche nur aufzustehen von unserem Tisch, um seine Streichhölzer zu suchen in seiner linken oder rechten Manteltasche. Warum ich lache? Nämlich ich habe Streichhölzer und brauche nicht aufzustehen, ich gebe Feuer; ihr Blick nicht ohne Verweis: Was soll das! Er ist unser treuer Gast seit Jahren, genußfroh bei Tisch, ein bester Anreger auch auf der Reise. Später im Wagen frage ich, ob er es wisse, warum er mich zu seinem
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